Eine Unheilvolle Liebe
ich, dass sie so fremd in Gatlin war wie Lena, nur auf eine andere Art.
Tante Del nahm meine Hand und tätschelte sie liebevoll. »Arelia wollte vorherdeuten, wo du hingehst, aber dann hat sie nur herausfinden können, dass du dich in Georgia aufhältst. Leider ist Weissagung mehr Kunst als Wissenschaft. Den Sternen sei Dank, dass ich euch gefunden habe.«
»Was tust du hier, Tante Del?«
»Lena ist verschwunden. Wir hatten gehofft, dass sie bei dir ist.« Sie seufzte, weil ihr bewusst wurde, dass sie sich geirrt hatte.
»Sie ist nicht bei mir, aber ich glaube ganz sicher, dass ich sie finde.«
Tante Del strich ihr zerknittertes Kleid glatt. »Dann werde ich dir dabei helfen.«
Link kratzte sich am Kopf und sah mich zweifelnd an. Er hatte Tante Del zwar schon kennengelernt, allerdings nie miterlebt, wie hervorragend sie als Zeitenleserin war. Natürlich fragte er sich, wie eine leicht verwirrte alte Frau uns helfen könnte. Aber ich wusste es besser, denn ich hatte bereits eine finstere Nacht lang mit ihr zusammen am Grab von Genevieve Duchannes verbracht.
Ich betätigte den schweren eisernen Türklopfer. Tante Caroline öffnete und wischte sich die Hände an ihrer M.A.U.S.-Schürze ab: »Mädchen aus unserem Süden«. Sie lächelte und hatte dabei kleine Fältchen um die Augen.
»Ethan, was in aller Welt machst du hier? Ich hatte ja keine Ahnung, dass du nach Savannah kommen wolltest.«
Ich hatte nicht so weit gedacht, mir eine gute Ausrede zurechtzulegen, deshalb musste ich mit einer schlechten vorliebnehmen. »Ich bin hier … um einen Freund zu besuchen.«
»Wo ist Lena?«
»Sie konnte nicht mitkommen.« Ich trat einen Schritt von der Tür zurück, um die anderen vorzustellen und meine Tante vom Thema abzulenken. »Link kennst du ja schon und das sind Liv und Lenas Tante Delphine.« Ich machte mir keine Illusionen. Sobald ich wieder weg war, würde Tante Caroline schnurstracks meinen Vater anrufen und ihm erzählen, wie nett der kleine Plausch mit mir gewesen sei. So viel dazu, dass ich Amma verheimlichen könnte, wo ich mich herumtrieb. Die Chancen standen schlecht, dass ich meinen siebzehnten Geburtstag erleben würde.
»Nett, Sie wiederzusehen, Ma’am«, sagte Link höflich. Er war eben ein echter Kumpel, auf den man sich immer verlassen konnte.
Ich überlegte, ob es wohl irgendjemanden in Savannah gab, den meine Tante nicht kannte. Es war schwer vorstellbar; Savannah war zwar größer als Gatlin, aber eines hatten alle Städte im Süden gemeinsam: Jeder kannte jeden.
Tante Caroline führte uns alle ins Haus. Sie verschwand kurz und kehrte dann mit süßem Tee und einem Teller Benne Babys zurück, Plätzchen mit Ahornsirup, die sogar noch süßer waren als der Tee. »Heute war ein seltsamer Tag.«
»Wie meinst du das?« Ich nahm mir ein Plätzchen.
»Heute Morgen, als ich im Museum war, ist hier jemand eingebrochen. Seltsamerweise hat der Eindringling nichts mitgenommen. Er hat nur den gesamten Speicher durchwühlt, der Rest des Hauses blieb unangetastet.«
Ich warf Liv einen Blick zu. Ich glaubte nicht an Zufälle. Tante Del offenbar auch nicht. Sie blinzelte leicht benommen. Vermutlich fiel es ihr schwer, all die Dinge auseinanderzuhalten, die sich in diesem Raum ereignet hatten, seit das Haus im Jahr 1820 erbaut worden war. Während wir hier saßen und Plätzchen aßen, durchlebte sie wahrscheinlich gerade die letzten zweihundert Jahre. Ich dachte zurück an die Nacht auf dem Friedhof bei Genevieves Grab und daran, was Tante Del über ihre eigene Gabe gesagt hatte. Ein Palimpsest zu sein, sei eine große Ehre, aber eine noch viel größere Last.
Ich überlegte, was Tante Caroline besaß, das sich zu stehlen lohnte. »Was hast du denn auf dem Dachboden verstaut?«
»Ach, nichts Besonderes. Weihnachtsschmuck, Baupläne des Hauses, einige alte Aufzeichnungen deiner Mutter.«
Liv stieß mich unter dem Tisch an. Bestimmt dachten wir das Gleiche. Warum lagen diese Aufzeichnungen nicht im Archiv?
»Was sind das für Aufzeichnungen?«
Tante Caroline legte noch ein paar Plätzchen auf den Teller. Link futterte sie schneller auf, als meine Tante Nachschub holen konnte. »Ich weiß nicht genau. Ungefähr einen Monat vor ihrem Tod fragte Lila mich, ob sie ein paar Kisten hier aufbewahren könne. Du weißt ja, deine Mutter mit ihren vielen Aktenordnern.«
»Darf ich die Sachen mal sehen? Ich arbeite in den Sommerferien nämlich in der Bibliothek bei Tante Marian, vielleicht interessiert sie sich
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