Eine Unheilvolle Liebe
betastete die Narbe. Sie fühlte sich an, als ob jedes Wort stimmte, was Amma gesagt hatte.
»Seit wann weiß Lena, wie man Tote auferweckt? Wenn sie das könnte, meinst du nicht, sie hätte Macon schon längst zurückgeholt?«
Amma sah mich an. Ich hatte sie noch nie so verzagt erlebt. »Sie hat es nicht aus eigener Kraft gemacht. Sie hat den Bann aus dem Buch der Monde benutzt. Der Bann, der das Leben über den Tod siegen lässt.«
Lena hatte das Buch der Monde zu Hilfe genommen. Das Buch, das Genevieve und Lenas gesamte Familie auf Generationen hinaus dazu verdammt hatte, dass alle an ihrem sechzehnten Geburtstag berufen wurden, unwiderruflich entweder Licht oder Dunkel zu werden. Das Buch, mit dem Genevieve Ethan Carter Wate – wenn auch nur für eine Sekunde lang – vom Tod ins Leben zurückgeholt hatte; eine Tat, für die sie ihr ganzes restliches Leben büßen musste.
Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Mein Verstand ließ mich erneut im Stich, ich begriff mich selbst nicht mehr. Genevieve. Lena. Der Preis, der zu bezahlen war .
»Wie konntet ihr das nur tun?« Ich wich vor ihnen und ihrem Beschwörungszirkel zurück. Ich hatte genug heraufbeschworen.
»Sie hatte keine andere Wahl. Sie konnte dich nicht einfach gehen lassen.« Amma blickte mich schuldbewusst an. »Und ich auch nicht.«
Ich schüttelte den Kopf und rückte weiter von ihnen ab. »Das ist gelogen. Das würde sie nie tun.« Aber es stimmte nicht. Genau das würde sie tun, beide würden sie es tun. Ich wusste es, weil ich es genauso gemacht hätte.
Aber es spielte keine Rolle mehr.
In meinem ganzen Leben war ich noch nie so wütend auf Amma gewesen und so enttäuscht. »Du hast genau gewusst, dass man von dem Buch nichts umsonst bekommt. Du selbst hast es mir gesagt.«
»Ja, mein Junge.«
»Lena wird dafür bezahlen müssen, und das nur meinetwegen. Ihr beide werdet dafür bezahlen müssen.« Ich hatte das Gefühl, mein Kopf würde gespalten oder explodieren.
Eine verstohlene Träne lief über Ammas Wange. Sie legte zwei Finger auf die Stirn und schloss die Augen. Es war ihre Art, sich zu bekreuzigen und ein stilles Gebet zu sprechen. »Sie bezahlt ihn bereits, in diesem Augenblick.«
Mir stockte der Atem.
Lenas Augen. Die Nummer, die sie auf dem Jahrmarkt abgezogen hatte. Ihre Flucht mit John Breed. Die Wörter sprudelten gegen meinen Willen aus mir hervor.
»Sie wird Dunkel! Nur wegen mir!«
»Wenn Lena Dunkel wird, dann liegt es nicht daran, dass sie das Buch benutzt hat. Das Buch hat einen anderen Tribut gefordert.« Amma hielt inne, als könne sie es nicht ertragen, mir auch noch den Rest zu erzählen.
»Welchen?«
»Ein Leben hat das Buch geschenkt, ein anderes hat es genommen. Wir wussten, dass es Konsequenzen haben würde«, sagte Amma gepresst. »Aber wir haben nicht geahnt, dass es Melchizedek sein würde.«
Macon.
Das durfte nicht wahr sein.
Ein Leben hat es geschenkt. Und ein anderes hat es genommen .
Mein Leben für Macons Leben.
Alles passte zusammen. Wie sich Lena in den letzten Monaten benommen hatte. Wie sie sich von mir, von allen zurückgezogen hatte. Wie sie sich selbst angeklagt hatte, an Macons Tod schuld zu sein.
Und es stimmte ja. Sie hatte ihn getötet.
Um mich zu retten.
Ich musste an Lenas Notizbuch denken, an die verschlüsselten Seiten. Worüber hatte sie geschrieben? Über Amma? Sarafine? Macon? Das Buch? Es war die wahre Geschichte jener Nacht. Und dann die Gedichte, die sie auf die Wände gekritzelt hatte. Nobody the Dead and Nobody the Living . Zwei Seiten einer Medaille. Macon und ich.
Denn Grün kann niemals bleiben . Vor Monaten hatte ich noch geglaubt, Lena habe die Gedichtzeile von Robert Frost falsch verstanden. Aber natürlich hatte sie es richtig verstanden. Sie hatte von sich selbst gesprochen.
Kein Wunder, dass es ihr wehtat, mich anzusehen. Kein Wunder, dass sie weggelaufen war. Sie fühlte sich schuldig. Ich fragte mich, ob sie es wohl jemals wieder aushalten würde, mich anzuschauen. Für mich ganz allein hatte Lena das alles auf sich genommen. Es war nicht ihre Schuld.
Es war meine Schuld.
Keiner von uns sprach ein Wort. Es gab kein Zurück mehr, für niemanden von uns. Was Lena und Amma in jener Nacht getan hatten, konnte nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Ich hätte eigentlich gar nicht hier sein dürfen, aber ich war hier.
»Das ist der Lauf der Dinge und den kann man nicht aufhalten.« Twyla schloss die Augen. Es schien, als würde sie etwas hören, was
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