Eine Unheilvolle Liebe
gedacht, sie wollte frei sein von mir, aber in Wirklichkeit wollte sie mir die Freiheit schenken. Als ob meine Liebe zu ihr ein Käfig wäre, aus dem ich mich nicht selbst befreien könnte.
Ich klappte das Notizbuch zu. Es tat weh, darin zu lesen, ganz besonders weil Lena in jeder Beziehung so weit entfernt von mir war.
Ein paar Meter weiter lag Ridley und starrte noch immer in den Himmel der Sterblichen. Zum ersten Mal sahen wir dieselben Sterne.
Zwischen zwei Wurzeln eingezwängt, kauerte Liv, ich lag auf ihrer einen Seite, Link auf der anderen. Jetzt wo ich erfahren hatte, was an Lenas Geburtstag wirklich geschehen war, hätte man meinen können, meine Gefühle für Liv würden nachlassen. Aber so einfach war es nicht. Wenn alles anders gekommen wäre, wenn ich Lena niemals begegnet wäre, wenn ich Liv niemals begegnet wäre …
Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, Liv zu betrachten. Im Schlaf war sie so friedlich, so schön. Ihre Schönheit war anders als Lenas Schönheit. Sie strahlte Zufriedenheit aus, sie war wie ein Sonnentag, ein Glas mit kalter Milch, ein Buch, das man zum ersten Mal aufschlägt. Sie war unbeschwert. Sie war so, wie ich mich gerne gefühlt hätte.
Normal. Voller Hoffnung. Voller Leben.
Als ich schließlich einschlief, fühlte ich mich genau so, jedenfalls für einen kurzen Augenblick …
Lena schüttelte mich. »Wach auf, du Schlafmütze. Wir müssen miteinander reden.« Lächelnd zog ich sie an mich. Ich wollte sie küssen, aber sie lachte und duckte sich weg. »Hey, so ein Traum ist das nicht.«
Ich setzte mich auf und sah mich um. Wir lagen in Macons Bett in seinem unterirdischen Zimmer. »Ich träume von nichts anderem, L. Ich bin fast siebzehn, was erwartest du von mir?«
»Das hier ist aber mein Traum, nicht deiner. Und ich bin erst seit vier Monaten sechzehn.«
»Wird Macon nicht wütend, wenn er uns hier erwischt?«
»Macon ist tot, weißt du nicht mehr? Du scheinst wirklich zu schlafen.« Sie hatte recht. Ich hatte alles vergessen, aber jetzt fiel es mir schlagartig wieder ein. Macon war tot. Lenas Handel mit dem Buch.
Und Lena hatte mich verlassen, ohne mich verlassen zu haben. Denn sie war hier.
»Und das hier ist nur ein Traum?« Mein Magen zog sich zusammen. Bleichschwer wogen der Verlust, die Schuld, die ich auf mich geladen hatte, und der Gedanke daran, dass ich ihr mein Leben verdankte.
Lena nickte.
»Träume ich dich oder träumst du mich?«
»Hat das zwischen uns schon jemals eine Rolle gespielt?«, wich sie der Frage aus.
Ich ließ nicht locker. »Bist du noch da, wenn ich aufwache?«
»Nein. Aber ich musste dich einfach sehen. Nur so können wir miteinander sprechen.« Sie hatte ein weißes T-Shirt an, eines meiner ältesten, kuscheligsten. Sie war zerzaust und schön zugleich; immer wenn sie fand, sie sähe schrecklich aus, gefiel sie mir am besten.
Ich fasste sie um die Taille und zog sie an mich. »L, ich habe meine Mutter gesehen. Sie hat mir von Macon erzählt. Ich glaube, sie hat ihn geliebt.«
»Sie haben einander geliebt. Ich habe diese Visionen auch gehabt.« Unsere Verbindung bestand also noch. Der Gedanke machte mich froh.
»Sie waren wie wir, Lena.«
»Und sie durften nicht zusammen sein. Genau wie wir.«
Ich träumte, daran bestand kein Zweifel. Denn wir sprachen mit einer so sonderbaren Distanz über diese entsetzlichen Wahrheiten, als ginge es um andere. Sie streckte die Hand aus und wischte einen Erdkrümel von meinem T-Shirt. Wo kam er her? Ich versuchte, mich zu erinnern, aber es gelang mir nicht.
»Was sollen wir jetzt machen, L?«
»Ich weiß es nicht, Ethan. Ich habe Angst.«
»Was willst du denn?«
»Dich«, flüsterte sie.
»Und warum ist es dann so schwer?«
»Was wir tun, ist falsch. Alles ist falsch, wenn ich bei dir bin.«
»Fühlt sich das falsch an?« Ich drückte sie an mich.
»Nein. Aber was ich fühle, spielt jetzt keine Rolle mehr.« Seufzend schmiegte sie sich an meine Brust.
»Wer hat dir das gesagt?«
»Das musste mir niemand sagen.«
Ich sah ihr in die Augen. Sie waren immer noch golden.
»Geh nicht zur Weltenschranke. Komm zu mir zurück.«
»Ich kann jetzt nicht mehr umkehren. Ich muss herausfinden, wie alles weitergeht.«
Ich spielte mit einer ihrer schwarzen Locken. »Und warum findest du nicht heraus, wie es mit uns weitergeht?«
Sie lächelte und berührte meine Wange. »Weil ich weiß, wie es mit uns weitergeht.«
»Und wie?«
»So.« Sie beugte sich über mich und gab mir einen
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