Eine Unheilvolle Liebe
lachen. »Was gibt’s denn da zu sehen?«
»Dein dummes Gesicht.« Ich beugte mich über ihn, um herauszufinden, ob seine Pupillen fokussierten. So wie es aussah, war er okay.
»Du willst mich doch nicht etwa küssen, oder?«
Ich war so erleichtert, ich hätte ihn glatt abknutschen können.
»Na klar, ich liebe deinen Schmollmund.«
Eine wie alle anderen
19.6.
In dieser Nacht schliefen wir im Wald zwischen den Wurzeln eines Baums, der so riesenhaft groß war, wie ich es noch nie gesehen hatte. Mein Ersatz-T-Shirt diente als provisorischer Verband für Links Knie, sein Arm steckte in einer Schlinge, die einmal mein Schulpullover gewesen war. Auf der anderen Seite des Stamms lag Ridley, mit weit geöffneten Augen starrte sie in den Himmel. Ich fragte mich, ob sie jetzt den Himmel der Sterblichen sah. Sie war erschöpft, aber ich bezweifelte, dass sie Schlaf finden würde.
Was ihr wohl jetzt durch den Kopf ging? Bedauerte sie es, uns geholfen zu haben? Hatte sie wirklich ihre Caster-Kräfte verloren?
Wie war es, als Sterbliche zu leben, wenn man immer etwas anderes, etwas Besonderes gewesen war? Wenn man nie die »Schwachheit des menschlichen Seins« verspürt hatte, wie Mrs English im letzten Schuljahr gesagt hatte. Wir hatten über H. G. Wells’ Der Unsichtbare gesprochen und jetzt schien Ridley genauso unsichtbar zu sein.
Konnte man glücklich sein, wenn man eines Tages aufwachte und plötzlich wie alle anderen war?
Wäre Lena glücklich darüber? Wie würde sich ihr Leben anfühlen, wenn sie es so mit mir verbrächte? Hatte sie meinetwegen nicht schon genug gelitten?
Wie Ridley fand auch ich keinen Schlaf. Aber ich hatte keine Lust, den Himmel anzuschauen; ich wollte wissen, was in Lenas Notizbuch stand. Mir war klar, dass ich damit eine Grenze überschritt, andererseits bestand die Chance, dass ich etwas herausfand, das uns weiterhalf. Eine Stunde lang überlegte ich hin und her, dann kam ich zu dem Schluss, dass es uns mehr nützen würde, wenn ich ihre Notizen las. Ich schlug das Spiralbuch auf.
Anfangs hatte ich Mühe, es zu lesen, weil mein Handy die einzige Lichtquelle war. Aber nachdem sich meine Augen daran gewöhnt hatten, sprang mir Lenas Handschrift deutlich zwischen den blauen Linien ins Auge. In den Monaten seit ihrem Geburtstag hatte ich ihre neue Schrift oft genug gesehen, trotzdem konnte ich mich einfach nicht daran gewöhnen. Sie war jetzt völlig anders als die mädchenhaft-verspielten Buchstaben von früher. Ihre Handschrift vor mir zu sehen, war auch deshalb seltsam, weil Lena monatelang nur an Fotos von Grabsteinen und schwarzen Mustern interessiert gewesen zu sein schien. Muster von Dunklen Castern wie jene, die sie sich auf die Hand gemalt hatte, waren auch an die Seitenränder gekritzelt. Die ersten Einträge hatte sie nur wenige Tage nach Macons Tod gemacht, deshalb waren sie noch in ihrer normalen Schrift.
leerdichtgedrängte Tagnächte / und doch (mehr und weniger) Angst (mehr und weniger) Furcht/ warten, dass die Wahrheit mich im Schlaf erdrosselt / falls ich Schlaf finde
Angst (mehr und weniger) Furcht.
Ich verstand diese Anspielung, denn genau so hatte sie auch gehandelt. Mit weniger Furcht, aber mit größerer Angst. Als hätte sie nicht mehr viel zu verlieren und gerade darum Angst.
Ich blätterte weiter. Ein Datum stach mir ins Auge. Der 12. Juni. Der letzte Schultag.
Dunkelheit lauert ich glaube ich kann sie festhalten / sie in meiner Hand hüten / doch meine Hände sind leer / stille während ihre Finger meine umschließen
Immer wieder las ich diese Stelle. Sie beschrieb den Tag am See, den Tag, an dem sie es fast zu weit hatte kommen lassen. Den Tag, an dem sie mich hätte töten können. Wer war mit »sie« gemeint? Sarafine?
Wie lange hatte sie dagegen angekämpft? Wann hatte alles angefangen? In der Nacht, in der Macon starb? Seit wann trug sie seine Kleidung?
Eigentlich hätte ich das Notizbuch weglegen müssen, aber ich brachte es nicht über mich. Ihre Verse zu lesen, war beinahe so, als hörte ich endlich wieder ihre Gedanken. Ich hatte sie so lange nicht mehr gehört und sehnte mich so sehr danach. Seite um Seite schlug ich auf, suchte die Tage, die so verstörend gewesen waren.
Zum Beispiel der Tag auf dem Jahrmarkt …
menschliche Herzen und menschliche Ängste / das ist ihre Gemeinsamkeit / ich lasse ihn frei wie einen Sperling
Der Sperling in freiem Flug – für einen Caster war dieser kleine Vogel das Symbol der Freiheit.
Ich hatte
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