Eine Unheilvolle Liebe
nicht mehr erzählte.
»Deshalb bist du doch gekommen, nicht wahr?«, fragte Tante Del und blinzelte verwirrt. »Um Auf Wiedersehen zu sagen.« Sie war ein Palimpsest und konnte die verschiedenen Zeiten, in denen sie lebte, nicht auseinanderhalten, deshalb war sie immer etwas unsicher. Sie sah, was in einem Raum geschehen war und noch geschehen würde, und das alles zur gleichen Zeit. Manchmal überlegte ich, was sie wohl gerade sah, aber im Grunde wollte ich es gar nicht so genau wissen.
»Ja. Ich wollte Auf Wiedersehen sagen. Wann reist ihr ab?«
Mit gewohnt mürrischer Miene blätterte Reece im Esszimmer Bücher durch. Unwillkürlich drehte ich den Kopf weg. Was ich jetzt am allerwenigsten brauchen konnte, war Reece, die auf den ersten Blick alles, was in der vergangenen Nacht geschehen war, in meinem Gesicht las.
»Frühestens am Sonntag«, rief sie mir zu und beantwortete damit meine Frage. »Aber Lena hat mit dem Packen noch gar nicht angefangen, also stör sie nicht.«
Noch zwei Tage. In zwei Tagen reiste sie ab und ich wusste nichts davon. Hatte sie überhaupt vorgehabt, sich von mir zu verabschieden?
Ich zog den Kopf ein und ging ins Wohnzimmer, um Gramma zu begrüßen. Sie war die Ruhe selbst. In der Hand eine Tasse Tee, saß sie in ihrem Schaukelstuhl und las die Zeitung, als ginge sie das ganze Gewusele um sie herum nichts an. Sie lächelte freundlich und faltete die Zeitung zusammen. Ich hätte gewettet, dass sie die Stars and Stripes las, aber die Zeitung war in einer Sprache, die ich nicht kannte.
»Ethan. Ich wünschte, du würdest uns begleiten. Du wirst mir fehlen, und ich bin sicher, Lena wird die Tage zählen, bis wir wiederkommen.« Sie stand auf und umarmte mich.
Vielleicht zählte Lena die Tage ja wirklich, aber nicht aus dem Grund, den Gramma vermutete. Ihre Familie machte sich offenbar keine Vorstellung davon, was mit uns, genauer gesagt mit Lena, los war. Anscheinend ahnten sie nicht einmal, dass Lena ihre Zeit in Caster-Clubs wie dem Exil verbrachte oder auf dem Rücksitz einer Harley mitfuhr. Vielleicht wussten sie auch von John Breed gar nichts.
Ich dachte daran, wie Lena von den vielen Orten erzählt hatte, an denen sie schon gewohnt hatte, von den Freunden, die sie niemals gehabt hatte, von den Schulen, die sie nicht besuchen durfte. Ich fragte mich, ob sie jetzt in dieses alte Leben zurückkehren würde.
Gramma musterte mich neugierig und legte mir ihre Hand auf die Wange. Sie war weich wie die Sonntagshandschuhe der drei Schwestern. »Du hast dich verändert, Ethan.«
»Tatsächlich, Ma’am?«
»Ich weiß nicht genau, was, aber etwas an dir ist anders.«
Ich blickte weg. Es hatte keinen Sinn, ihr etwas vorzumachen. Sie würde es spüren, dass Lena und ich nicht mehr zusammen waren, wenn sie es nicht sowieso längst wusste. Gramma war wie Amma. Jemand, dessen bloße Anwesenheit in einem Raum die Atmosphäre beherrschte, allein aufgrund seiner Willensstärke. »Ich bin nicht derjenige, der sich verändert hat, Ma’am.«
Gramma setzte sich wieder und nahm die Zeitung zur Hand. »Unsinn. Jeder verändert sich, Ethan. So ist das Leben. Jetzt geh und sag meiner Enkelin, dass sie packen soll. Wir müssen los, ehe die Flut kommt und wir für immer hier eingeschlossen sind.« Sie lachte, als hätte sie einen Scherz gemacht. Aber mir war nicht nach Lachen zumute.
Lenas Tür stand einen Spaltbreit offen. Die Wände, die Decke, die Möbel – alles war pechschwarz. Die Gedichte waren nun nicht mehr mit Filzstift an die Wände gekritzelt, sondern mit weißer Kreide. Die Schranktüren waren von oben bis unten mit dem immer gleichen Satz beschrieben: runningtostandstillrunningtostandstillrunningtostandstill . Ich starrte auf die Buchstabenreihe, versuchte, die einzelnen Worte auseinanderzunehmen, wie schon so oft, wenn ich Lenas Handschrift zu entziffern versucht hatte. Als ich es geschafft hatte, begriff ich, dass die Zeilen aus einem alten Song von U2 stammten. Laufen, um still zu stehen .
Es stimmte. Seit Macons Tod hatte Lena genau das getan.
Sie lag auf ihrem Futon, ihre kleine Cousine Ryan saß neben ihr und hatte ihre Hände um Lenas Gesicht gelegt. Ryan war eine Thaumaturgin, aber sie benutzte ihre heilenden Kräfte nur dann, wenn jemand Qualen litt. Bisher war immer ich es gewesen, der ihre Hilfe brauchte, heute aber war es Lena.
Ich erkannte sie kaum wieder. Sie sah aus, als hätte sie in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan. Statt eines Nachthemds trug sie ein viel
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