Eine Unheilvolle Liebe
»Du weißt ja, wie sie sich aufregen, wenn du nicht pünktlich bist.«
»Jawohl, Ma’am.« Ich nahm den Wagenschlüssel meines Vaters von der Anrichte. Vor einer Stunde hatte ich ihn am Eingang zum Garten des Immerwährenden Friedens abgesetzt, denn er wollte eine Zeit lang mit Mutter allein sein.
»Einen Moment noch.«
Ich erstarrte. Ich wollte nicht, dass Amma mir in die Augen sah. Ich konnte jetzt nicht über Lena sprechen, und ich wollte nicht, dass sie mich ausfragte.
Amma wühlte in ihrer Tasche und zog etwas heraus. Dann nahm sie meine Hand und ließ eine Kette hineinfallen. Sie war aus Gold und ganz fein und hatte einen Anhänger in Form eines kleinen Vogels. Er war zierlicher als die Vögelchen bei Macons Beerdigung, trotzdem wusste ich sofort, was es war.
»Es ist ein Sperling für deine Mutter.« Ammas Augen glänzten feucht wie die Straße nach einem Regenguss. »Ein Sperling symbolisiert für Caster die Freiheit und für eine Seherin ist er das Symbol für eine sichere Reise. Sperlinge sind klug. Sie können weite Strecken fliegen, aber sie finden immer wieder ihren Weg nach Hause.«
In meinem Hals war ein dicker Kloß. »Ich glaube nicht, dass meine Mutter noch große Reisen unternehmen wird«, stieß ich hervor.
Amma wischte sich über die Augen und ließ ihre Handtasche zuschnappen. »Du scheinst ja alles ganz genau zu wissen, Ethan Wate.«
Als ich beim Haus der drei Schwestern in die Kiesauffahrt einbog und die Wagentür öffnete, blieb Lucille auf dem Beifahrersitz sitzen, statt wie sonst hinauszuspringen. Sie wusste, wo wir waren, und sie wusste auch, dass die Schwestern sie verbannt hatten. Ich scheuchte sie aus dem Auto, aber sie blieb auf der Grenze zwischen Rasen und Gehweg sitzen.
Ich musste nicht erst klopfen, Thelma öffnete bereits die Tür. Sie blickte an mir vorbei und sagte: »Hey, Lucille.«
Lucille leckte sich lässig die Pfote, dann beschnupperte sie ihren Schwanz, was so viel hieß wie: Du kannst mich mal.
»Kommst du nur vorbei, um mir zu erzählen, dass du Ammas Brötchen lieber magst als meine?«, brummte Thelma. Lucille war die einzige Katze, die ich kannte, die Brötchen und Soße fraß statt Katzenfutter. Sie miaute kurz, als hätte sie zu diesem Thema einiges zu sagen.
Thelma wandte sich mir zu. »Hallo, süßer Bengel. Ich hab dich kommen hören.« Sie drückte mir einen Schmatz auf die Wange, der wie immer einen knallroten Lippenstiftabdruck hinterließ, den man nicht einmal mit feuchten Händen wegrubbeln konnte. »Geht’s dir gut?« Alle wussten, dass der Tag heute nicht einfach für mich war.
»Ja, mir geht’s gut. Sind die Schwestern fertig?«
Thelma stemmte die Hand in die Hüfte. »Sind diese Mädels jemals in ihrem Leben rechtzeitig fertig gewesen?« Sie sprach immer von den Mädels, wenn sie die Schwestern meinte, obwohl alle drei wesentlich älter waren als sie, mehr als doppelt so alt sogar. Mein Dad hatte Thelma angestellt, um sich um die Schwestern zu kümmern, nachdem Tante Grace vor zehn Jahren um ein Haar aus Versehen das Haus abgebrannt hätte.
Eine Stimme kam aus dem Wohnzimmer. »Ethan, bist du es? Komm rein. Du musst dir unbedingt etwas anschauen.«
Ich hatte keine Ahnung, was sie meinten. Vielleicht bauten sie aus alten Stars-and-Stripes- Ausgaben ein Nest für eine obdachlose Waschbärenfamilie, vielleicht planten sie auch gerade die vierte – oder war es die fünfte? – Hochzeit von Tante Prue. Aber es gab noch eine dritte Möglichkeit, die ich nicht bedacht hatte, und dabei spielte ich eine Rolle.
»Komm her.« Tante Grace winkte mich herein. »Mercy, gib ihm ein paar von den blauen Aufklebern.« Sie fächelte sich Luft mit einem alten Kirchenzettel zu, der vermutlich noch von der Beerdigung einer ihrer vielen Ehemänner stammte. Da die Schwestern streng darauf achteten, dass sämtliche Gottesdienstbesucher die Zettel am Ende der Begräbnisfeier wieder zurückgaben, hatten sie jede Menge davon im Haus herumliegen.
»Ich würde sie dir ja selber holen, aber seit dem Vorfall muss ich sehr aufpassen. Wegen der Komplikationen und so.« Seit dem Jahrmarkt hatte Tante Grace nur noch ein Thema. Die halbe Stadt wusste mittlerweile, dass sie in Ohnmacht gefallen war, aber wenn sie darüber sprach, dann klang es so, als leide sie an einer lebensbedrohlichen Krankheit, und das wiederum war Grund genug, dass Thelma, Tante Prue und Tante Mercy bis an ihr Lebensende nach ihrer Pfeife würden tanzen müssen.
»Nein, Ethans Farbe ist Rot.
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