Eine unzüchtige Lady
genug, dass er es bemerkte - an ihren Lippen.
Und ihr Mund war auch sehr einladend. Rosige, weiche Lippen, die Unterlippe ein wenig voller und mit sinnlichem Schwung. Hübsch.
»Woher stammt Ihr?«, hakte er nach.
»Aus York.« Sie antwortete bereitwillig, obwohl ihre Miene weiterhin diesen gleichgültigen, ernsten Blick zur Schau stellte, der sie so distanziert wirken ließ. »Meine Mutter starb, als ich noch ein Kind war, und mein Vater war ein viel beschäftigter Mann, daher habe ich einen Großteil meiner Zeit in London bei meiner Tante verbracht. Sie war es, die mich offiziell in die Gesellschaft eingeführt und meine Eheschließung arrangiert hat.«
Zwei Sätze konnten nicht gerade das Leben eines Menschen zusammenfassen. »Keine Geschwister?«
»Nein.«
Eine Unterhaltung aus einer Frau herauszukitzeln, war normalerweise nicht so aufwendig. Er hob eine Braue und versuchte es erneut. »Was sind Eure Interessen? Theater? Oper? Mode?«
Sie zögerte, doch dann antwortete sie schlicht: »Ich liebe es zu lesen. Alles. Romane, die Zeitung von der ersten bis zur letzten Seite, sogar wissenschaftliche Arbeiten, wenn ich sie finde. Es war schon immer meine Leidenschaft. Meine Gouvernante war sehr fortschrittlich. Sie bestärkte mich in meiner Wissbegierde und lieh mir Bücher, von denen ich sicher bin, meine Tante hätte es missbilligt, dass ich sie lese. Miss Dunworth’ Vater war ein berühmter Antiquar und hat Bücher aus aller Welt gesammelt. Er ließ seine Tochter in manchen Dingen verarmt zurück, als er starb, aber in anderen Belangen war sie reich beschenkt, wenn man Wissen einen Wert zubilligt. Alles musste verkauft werden, aber sie behielt seine Bibliothek.«
Frauen mit Verstand störten ihn nicht so sehr wie vielleicht andere Männer seines Bekanntenkreises. Ihm gefiel auch das Wort Leidenschaft, wenn sie es aussprach.
»Erzählt mir von Eurem liebsten Autor.«
»Voltaire, wenn Ihr mich zwingt, eine Wahl zu treffen.« Ihre Miene wurde lebhafter und ließ ihr hübsches Gesicht strahlen.
»Wer noch?«
Sie mochte die antiken Griechen, Shakespeare, Pope, die modernen Arbeiten einiger berühmter Autoren der Gegenwart - von einigen hatte er noch nichts gelesen.
Die Sonne wärmte ihn, der Brandy war weich und köstlich, und er war … verzaubert.
Von ihrer Blaustrumpfneigung? Es war eine Offenbarung.
Frauen dienten gewöhnlich nur einem informellen Zweck in seinem Leben, aber da war ein Funkeln in Carolines Augen, das ihn anzog. Seit sie ihm vor wenigen Tagen im Gasthaus ihre Identität enthüllt hatte, war er von ihr fasziniert.
Erst als er das Gespräch wieder zurück auf ihre Familie lenkte, schwand die Begeisterung aus ihrer Miene, und sie widmete ihre Aufmerksamkeit angestrengt ihrer Teetasse. »Wie ich bereits sagte, ich bin bei meiner Tante aufgewachsen. Sie starb nur etwa einen Monat nach Edward.«
Er wartete. Sie schien nicht mehr sagen zu wollen, aber nach ihrer Nachricht war er recht neugierig, mehr über ihre Ehe zu erfahren. »Ich kannte Euren Ehemann, aber nur flüchtig.«
»Seid froh darum.«
Seine Brauen hoben sich erstaunt bei ihrem knappen Tonfall. »Ich verstehe.«
Sie beobachtete ihn über den Rand ihrer Tasse, die sie schließlich mit einer bewusst sorgfältigen Geste beiseitestellte. Diese leuchtenden, grauen Augen, die so hübsch von den dichten, zarten Wimpern umschmeichelt wurden, blickten ihn direkt an. »Vergebt mir, aber nein, Ihr versteht es nicht. Ihr wart nie mit einem Mann verheiratet, der Euch nicht kümmert. Ihr wart nie den Launen eines anderen unterworfen, und bitte gebt zu, dass Euch die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in unserer Gesellschaft bewusst sind, die es adeligen Gentlemen erlauben, kostspielige Wetteinsätze auf ihren Mangel an Tugend zu machen, während Frauen dazu verurteilt sind, ihre Tugend streng zu wahren.«
Für einen Moment wusste Nicholas nicht, was er darauf erwidern sollte. Lady Wynn flirtete nicht mit ihm - das hatte er bereits festgestellt -, und offensichtlich besaß sie die Fähigkeit, direkt zum Punkt zu kommen und erfrischend ehrlich zu sein. Nach einem kurzen Zögern neigte er den Kopf. »Ein Punkt für
Euch. Ich werde es fortan unterlassen, anmaßende Unterstellungen zu machen.«
Seine schlichte Zustimmung schien sie zu verwirren. Sie verzog den Mund und zog erneut seine unberechenbare Aufmerksamkeit auf ihre weichen Lippen. »Ich … Es tut mir leid«, sagte sie nach kurzem Zögern und seufzte leise. »Ich bin ein
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