Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen
Raupen und Maden mehr als Suppe oder Gulasch. Schönes, duftendes, gebratenes Fleisch …
Zitternd stand er vor dem Dickicht und wartete. Aber er wußte, daß der Panther nicht wiederkam. Nie mehr! Die tödliche Einsamkeit war in dieser Nacht vollkommen geworden.
5
Am Morgen starb Schwester Rudolpha, still, ohne noch einmal aus ihrer Besinnungslosigkeit zu erwachen. Sie starb so still, wie sie gelebt hatte. Sie hörte einfach auf zu atmen.
Gloria deckte einen Lappen über ihr vom Fieber aufgedunsenes Gesicht und kletterte dann hinaus aus dem Wrack. Peters saß finster blickend am zerbrochenen Leitwerk und starrte auf die Stelle, an der der Panther verschwunden war. Der Morgenbesuch war ausgeblieben; er hatte den Menschen kennengelernt und mißachtete ihn.
»Sie ist tot«, sagte Gloria leise. Peters nickte, aber sie hatte den Verdacht, daß er sie gar nicht verstanden hatte.
»Begraben wir sie gleich?« fragte sie.
Peters starrte in den Wald. Sein zerwuscheltes Haar hing ihm über die Augen. Er atmete tief auf und lehnte die Stirn an den Speer, den er vor sich in den Boden gerammt hatte.
»Er kommt nie wieder«, sagte er.
»Wer?«
»Der Panther.«
»Du hast ihm doch aufgelauert?«
»Ja. Und er hat mich zum Helden gemacht. Das konnte er nicht vertragen. Ausgerechnet mich zum Helden! Es ist zum Heulen! Ein ganzer Zentner Fleisch! Jetzt verhungern wir.«
»Wir sammeln weiter Raupen, Maden und Schlangen.« Sie setzte sich neben ihn und legte den Arm um seine Schulter. »Und morgen ziehen wir los. Immer nach Süden. Irgendwann kommen wir an einen Fluß, dann sind wir gerettet.«
»Irgendwann! Sollen wir uns durch alle Maden des Amazonas durchfressen?«
»Es bleibt uns keine andere Wahl.« Sie stand auf, riß den Speer aus dem Boden und warf ihn zur Seite. »Wir wollen Schwester Rudolpha begraben.«
Peters blieb sitzen. Der Gedanke an Fleisch, an Kauen und Schlucken, an das Gefühl, wenn Stück für Stück die Speiseröhre hinunterrutscht, machte ihn fast wahnsinnig. Aber ebenso wahnsinnig machte ihn die Aussicht, wochenlang diese Maden zu essen, auch wenn sie im Topf aussahen wie Kalbsfrikassee. Richtiges Fleisch, o mein Gott, man sollte von sich selbst abschneiden, was unwichtig ist, es braten und essen. Ein paar Zehen, die Ohren, die kleinen Finger und die Ringfinger. Mit den übrigen drei kann man doch noch gut zurechtkommen. Nur bloß nicht mehr diese Maden, diese weißen, fetten Maden …
»Wir … wir werden Rudolpha nicht begraben …«, sagte Peters dumpf. »Nein, das werden wir nicht.«
Gloria sah ihn verständnislos an. »Wieso nicht?« fragte sie langsam.
»Ich habe Salz entdeckt.« Peter legte die Hände vor sein Gesicht. Sie zitterten wie im Frost. »Hinten, im kleinen Transportraum. Zwei Säcke mit Salz. Gut durchgesalzenes Fleisch und in der Sonne getrocknet, fault nicht. Kennst du die luftgetrockneten Würste? Eine westfälische Spezialität. Und luftgetrockneter Schinken, das berühmte Bündner Fleisch. Alles gut gesalzen und getrocknet. Und wir haben Salz. Zwei Säcke voll!«
Sie begriff erst nicht, was er da erzählte, aber als er schwieg, sie aus flatternden Augen anstarrte, stieg langsam das Erkennen in ihr hoch. Das Entsetzen, das ihm folgte, fror sie ein.
»Hellmut –«, stammelte sie. »Mein Gott, Hellmut … bist du wahnsinnig?«
»Man kann es auch braten … vorbraten, dann hält es sich auch lange …«
»Hellmut!« schrie sie auf. Sie wich von ihm zurück zum Wrack und stieß mit dem Rücken gegen die heiße Metallwand. Dahinter lag Schwester Rudolpha, eine frische Tote.
»Es ist Fleisch«, sagte Peters dumpf. »Gloria, es ist …«
»Sprich nicht weiter!« schrie sie. »Halt den Mund. Verdammt, halt den Mund!«
»Es geht um unser Leben. Wir kommen hier nicht wieder heraus, wenn wir nur Raupen fressen! Gloria, wir schaffen es nie! Und da liegt Fleisch, ganz gleich, von wem … es ist Fleisch! Man kann es essen! Es ist unser Leben! UNSER LEBEN! Gloria –«
»Bestie! Bestie!« Sie schnellte auf ihn zu, trommelte mit den Fäusten auf ihm herum, biß und kratzte ihn, und er hielt still, bis sie sich ausgetobt hatte und erschöpft auf den Boden fiel.
»Bestie –«, sagte sie noch einmal.
»Ist es vorbei?« fragte er ruhig.
»Ja –«
»Wir haben über 200 Kilometer unbewohnten Urwald vor uns. Das können vier, sechs, acht Wochen Marsch sein. Wir werden uns den Weg durch das grüne Gestrüpp schlagen müssen.«
»Bis zu einem Fluß –«
»Dann bauen wir ein Floß.
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