Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen
Musik. Mensch, sitzen Sie still!« Serra starrte angestrengt ins Wasser. »Links von Ihnen, im Busch hinter der Mangrove, sitzen sie. Verdammt, nein, ich kann sie auch nicht sehen. Aber ich sehe die Affen, die dort oben in den Bäumen herumturnen und sich wie besoffen benehmen. Tun Sie so, als merkten Sie es nicht. In dem Augenblick, wo die Indios entdecken, daß man sie wittert, schießen sie.« Serra hob den sackleinenen Beutel nach vorn, holte kaltes, gebratenes Fleisch heraus und reichte ein Stück zu Peters hinüber. Peters nahm es, aber er biß nicht hinein.
»Mein Gott, Sie können jetzt essen?« fragte er, als er Serra mit Genuß kauen sah.
»Warum nicht? Hungrig zu sterben ist eine doppelte Strafe. Sie sollten auch essen, Hellmut. Soll ich Ihnen erzählen, wie so ein Giftpfeil wirkt? Es ist ein Lähmungsgift. Zuerst …«
»Halten Sie die Schnauze, Antonio. Ich habe davon genug gehört.« Peters biß ab, aber als er kauen wollte, war er wie versteinert. »Ich kriege keinen Bissen hinunter.«
»Dann tun Sie so, als ob … das macht Eindruck. Ein essender Mensch ist ein friedlicher Mensch. So komische Ansichten hat man eben vom Menschen.«
Sie saßen über eine Stunde auf den Steinen im Wasser und ruhten sich aus. Einmal schwammen drei Krokodile in sicherer Entfernung an ihnen vorbei, beäugten sie träge, schlossen dann die Glotzaugen und tauchten weg. Drei Meter von ihnen glitt eine armdicke, grüne Schlange ins Wasser und schwamm elegant mit dem Strom abwärts.
»Harmlos«, sagte Serra, als Peters sein Gewehr fester umklammerte. »Das war Violetta.«
»Wieso?«
»Ich nenne alle diese Dicken Violetta.« Serra rülpste und begann sich wieder eine Tabakwurst zu drehen. »Ob Sie's glauben oder nicht, Violetta war ein Halbblut wie ich. Keine Schönheit, aber ein richtiger Batzen zum Reingreifen. Violetta ging zugrunde, weil eine harmlose Riesenschlange sie erwischte und kurzerhand erwürgte. Seitdem nenne ich alle dicken Schlangen Violetta.«
»Sie haben ein Gemüt!« Peters stand auf. »Wollen wir weiter, Antonio? Noch zwei Stunden, und wir kommen an die Stelle, wo ich an den Fluß gelangt bin. In dieser Gegend habe ich Gloria verloren.«
»Wenn wir weiterkommen.« Serra erhob sich ebenfalls. »Ich bin noch nie hier oben gewesen. Aus gutem Grund. Irgendwo hier muß die unsichtbare Grenze sein, wo die Ximbús an die Yincas stoßen. Die blutige Grenze, ja, auch das gibt's im Urwald. Wo zwei Völker wohnen, und wenn's Urvölker sind, gibt es Mord und Kampf ums Land. Und dabei ist so viel davon vorhanden.« Serra tippte an seine Stirn. »Der Mensch ist von Natur aus hier drinnen nicht normal! Gehen wir!«
Sie wateten wieder ans Ufer und umgingen die brodelnden und brüllenden Stromschnellen, balancierten über glitschige Steine und kletterten über niedergebrochene und quer im Wasser liegende Bäume. Es war ein Weg, dem sie Meter um Meter abringen mußten.
Plötzlich blieb Serra, der wie immer voranging, ruckartig stehen. Peters, der ihm dicht folgte und sich gerade umblickte, prallte auf ihn und hielt sich an Serras Schultern fest.
»Was ist los?« rief er.
»Das Komitee«, sagte Serra heiser. »Fertig machen zum Schrumpfkopf …«
Peters riß sein Gewehr nach vorn und warf den Sicherungsflügel herum. Jetzt sah auch er die kleinen, rotbraunen, nackten Männer, die hinter einem der umgestürzten Bäume kauerten. Ihre Gesichter und Körper waren mit weißen, dicken Streifen bemalt, als hätten sie die Haut eines Zebras.
»Nicht schießen!« knurrte Serra durch die Zähne. »Erstens treffen Sie nur einen, und zweitens sind die mit ihren Blasrohren schneller. Zum zweiten Schuß kommen Sie nicht mehr! Und drittens sind es Yincas!«
»Ist das so wichtig?«
»Und wie! Ich kenne ein paar Worte Yinca. Ich habe ein paarmal Kontakt mit ihnen gehabt und getauscht. Salz gegen Orchideensamen. Die sind ganz wild auf Salz. Sie fressen es wie Zucker. Mensch, rühren Sie sich bloß nicht. Lassen Sie mich machen! Mich kennen sie.«
Antonio Serra hob beide Hände und streckte die Handflächen vor. Dann rief er etwas in einer kehligen Sprache und wartete.
Die kleinen, bemalten Männer schwiegen. Es waren nur vier, aber Peters ahnte, daß unsichtbar, die Blasrohre schußbereit vor den Lippen, eine größere Gruppe versteckt im Dschungel hockte.
»Warum antworten sie nicht?« fragte er heiser.
»Das nennt man Disziplin!« Serra atmete pfeifend durch die zusammengepreßten Zähne. »Sie warten auf den Häuptling.
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