Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen
Steinmessern aus der Lianenschlinge. Dann kniete der alte Häuptling vor seinem Sohn nieder, öffnete ihm die Brust und holte das noch warme Herz heraus. Er reichte es an Xéré weiter, und der legte es auf beide Hände wie in eine Schale und rannte zurück zu Gloria. Glückstrahlend hielt er ihr das Herz hin.
Sie sah es an, umklammerte den Baumstamm, drückte die Stirn gegen die Rinde und erbrach sich.
Der Tag ging herum, ohne daß sich jemand um Gloria kümmerte. Die Männer schwärmten aus zur Jagd, die Frauen und Kinder lagen in ihren Baumnestern, spielten, knüpften neue Lianenleitern und besserten die Blätterdächer aus.
Die Göttin war im Dorf; das genügte. Wenn sie befehlen sollte, würde man gehorchen.
Xéré, der sie entdeckt hatte, blieb in ihrer Nähe. Es war jetzt seine Lebensaufgabe. Er war der Auserwählte, er hatte die Göttin zuerst gesehen, sein Leben war voll in ihrer Hand. Was auch mit Gloria geschah, Xéré würde immer daran teilhaben.
Zuerst zögerte sie, sich im Dorf zu bewegen. Aber als sie merkte, daß niemand sie aufhielt, sondern nur Xéré ihr wie ein Schatten folgte, ging sie herum. Sie sah sich das Dorf an, stand am Ufer des trägen, gelbgrünen Flusses, der unter einem Tunnel von überhängenden Bäumen dahinfloß und den man von oben, aus der Luft, nicht sehen konnte. Sie besichtigte die Einbäume, die im brackigen Wasser der Bucht schaukelten, und versuchte, in eines der Kanus zu steigen. Es schwankte gefährlich, und sie wäre bestimmt ins Wasser gestürzt, wenn Xéré sie nicht festgehalten und an Land zurückgetragen hätte.
»Ein Floß«, sagte Gloria zu ihm. »Es muß ein Floß sein. Ich habe Kanufahren gelernt, aber ich weiß, wenn ich umkippe, habe ich keine Chance mehr.«
Sie prüfte es: sie warf ein Stück des Fleisches, das Xéré ihr als Essen gebracht hatte, weit hinaus in den Fluß, und sofort entstand dort ein Strudel, das trübe Wasser brodelte, Fischleiber schnellten übereinander und balgten sich um den Bissen. Piranhas. Die Fische mit dem Messergebiß. Die Mörder, die in ganzen Schwärmen auftreten. Der Sekundentod …
Gloria hob schaudernd die Schultern und sah Xéré an. Ihm schien ihr Grauen unbegreiflich zu sein, er war damit aufgewachsen, sie gehörten zu seiner Heimat. Er hatte oft erlebt, wie ein Mensch in diesem Strudel von Fischleibern skelettiert wurde. Es war die einfachste, sicherste und sauberste Begräbnisart der Feinde, wenn man ihnen den Kopf abgeschlagen und das wertvolle Kriegerherz aus der Brust gerissen hatte.
Am Nachmittag kam der alte Häuptling zu Gloria. Er hatte seinen Sohn begraben. Nicht im Maul der Piranhas, sondern stehend im ›Wald der Toten‹, einem Begräbnisplatz im Urwald, wo man die Toten, in breite Blätter eingewickelt, auf die heilige Erde legte, damit sie dort immer mit den Ahnen reden konnten. Die Häuptlinge wurden stehend begraben; sie sollten so stark und stolz, wie sie im Leben gewesen waren, auch im Reich der Toten herrschen. Auch sie wickelte man in dicke, saftige Blätter ein, wie früher die ägyptischen Mumien mit Bandagen umschnürt wurden, lehnte sie dann an die stärksten Baumstämme und schmückte ihren Kopf mit den bunten Federn von Paradiesvögeln und seltenen Kolibris. Hier standen sie bis zum Ende der Welt, konserviert von dem geheimnisvollen Saft der Blätter, unsterblich im Halbdunkel des gewaltigen Waldes. Stumme Herrscher über das Totenreich und ein Geheimnis der Ximbús.
Der alte Häuptling winkte Gloria zu und ging voraus. Eine Göttin soll alles sehen, auch das, was die Geister der Toten bewachen. Sie kamen an den Begräbnisplatz, gingen durch die liegenden Totenbündel und stiegen über die Blättermumien hinweg. Gloria nahm alle Kraft zusammen, diesen Anblick zu ertragen und die vereinzelt herumstehenden Häuptlingsleichen anzusehen, an denen sie vorbei mußten. Sie sah auch die frische Mumie des Hingerichteten. Stolz noch im Tode lehnte sie an einem dicken Baumstamm, dessen Krone turmhoch in dem wolkenlosen, blauen Himmel wogte. Es war der stärkste Baum, und der alte Häuptling war stolz darauf.
Hinter dem Begräbnisplatz senkte sich der Boden. Eine Art felsige Schlucht tat sich auf. Es war das alte Flußbett, wie Gloria erkannte, das in Jahrtausenden in den Boden gegraben worden war, bis durch irgendein Naturereignis der Fluß seine Richtung geändert hatte und jetzt dort floß, wo das Land eben und breit war.
Der alte Häuptling kletterte in die Schlucht hinunter. Sie kamen noch
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