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Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen

Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen

Titel: Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Zeit war, der Tag.
    Wie konnte die Sonnengöttin wagen, jetzt allein in die Nacht einzudringen?
    Man hätte an diesem Morgen zehn Mädchen geopfert, um die Sonne zu bitten, trotzdem weiterzuscheinen, und die Sonne hätte schließlich nachgegeben. Und dann wäre Gloria neben Xéré auf dem Totenplatz stehend begraben worden, eingewickelt in die besten Blätter und angelehnt an die stärksten Bäume.
    »Welche Lüge«, sagte Xéré, als er den toten Medizinmann an den Beinen packte und zum Dorfplatz wegschleifte, ihn dort bei den heruntergebrannten Feuern niederlegte und dann zu Gloria zurückkehrte. »Alles Lüge! Aber keiner wird sie glauben! Keiner! Es gibt keine Nachtgeister, es gibt keine Götter, es gibt nur die Tiere, den Wald, den Fluß und uns, die Menschen. Und daß es Tag und Nacht wird, hat auch seine Erklärung. Die weiße Frau weiß es, aber wir verstehen sie nicht. Alles Lüge!«
    Er fühlte sich stark, ging in der Nacht durch das Dorf, hinunter zum Fluß, hinüber zu dem Platz der Toten, und nirgendwo traf er rächende Geister.
    Er zog den Pfeil aus dem Körper Xuminas, legte ihn auf das Gesicht und breitete seine Arme aus, als sei er beim Gebet vom Tod überrascht worden. Dann kehrte er zu Gloria zurück, setzte sich wieder an den Baumstamm und wartete auf den Morgen.
    Er machte sich Gedanken, wie es kam, daß plötzlich helle Streifen am Himmel erschienen, die Dunkelheit grau wurde, dann lichter und immer lichter und die Welt hell wurde, ohne daß man die Sonne sah. Als sie dann im Blau des Himmels hing, war das nichts Neues mehr, aber diesen Übergang von der Nacht in den Tag begriff er noch nicht.
    Er nahm sich vor, morgen auf den höchsten Baum zu klettern, von dem man über den Wald blicken konnte, um zu sehen, woher die Sonne kam, ob sie irgendwo zwischen den Baumwipfeln schlief und wohin sie sich über Nacht verzog, in welches Versteck, aus dem sie dann wieder hervorkroch. Es war für Xéré jetzt alles so ungeheuerlich, seitdem er wußte, daß es keine Götter gab.
    Gloria erwachte vom Singen der Ximbús. Sie saßen um den toten Medizinmann herum und schienen ratlos zu sein. Der Krieg, der bisher so gut angelaufen war, hatte durch Xuminas Tod eine andere Wendung bekommen, bevor er noch begonnen hatte. Wen konnte man nun fragen, wie es weiterging?
    Die weiße Göttin?
    Führte sie nicht Krieg mit der Nacht?
    Xéré schüttelte den Kopf, als Gloria sich aufrichtete und hinüber zum Dorfplatz gehen wollte. Sie kam sich erstaunlich frisch vor, die Blätter hatten ihre weiße Haut so wunderbar gekühlt, daß nichts an ihr von dem Brand zurückgeblieben war. Nur die schwarzen Trümmer ihres ausgebrannten Wohnnestes zeigten, wie hoffnungslos ohne Xérés Eingreifen ihre Lage gewesen war.
    »Ich danke dir, Xéré«, sagte sie und streckte ihm die Hand hin.
    Der Junge nickte, verbeugte sich vor ihr, aber berührte sie nicht. Hundert Augen sahen ihnen zu.
    Gloria blickte sich um. Warum der Tote da lag, ahnte sie nicht, und sie erkannte ihn auch nicht ohne seinen Federschmuck. Der alte Häuptling saß neben dem Toten und sang, alle Frauen und Kinder waren oben in ihren Nestern und äugten über die Ränder der aufgekanteten Plattformen.
    Dieser seltsame Morgen gehörte allein den Männern. Der wichtigste Mann des Stammes war plötzlich mitten im Gebet gestorben. Das war so etwas Ungeheuerliches, daß alle wie gelähmt herumsaßen und nur noch leise singen konnten.
    Noch einmal versuchte Gloria, zu den Männern hinüberzugehen, aber ein Laut Xérés hielt sie zurück. Er schüttelte wieder den Kopf und sagte in seiner gutturalen Sprache:
    »Bleib hier. Geh nicht hinüber. Hier bist du sicher.«
    »Ich brauche ein Floß, Xéré«, sagte Gloria. »Ich weiß, eure Totenfeiern sind heilig, aber ich habe keine Zeit mehr. Wir müssen ein Floß bauen. Komm mit. Wenn du siehst, was ich anfange, wirst du es begreifen.«
    Sie ging aus dem schützenden Waldrand hinaus, obgleich Xéré wieder seine leisen, warnenden Töne ausstieß, sah sich dann nach ein paar Schritten um und war froh, daß Xéré ihr zögernd folgte.
    An dem singenden Kreis der Männer vorbei gingen sie zum Fluß und sahen in das gurgelnde, gelbgrüne Wasser. Hier, in der Bucht, war der Fluß träge und seicht, aber außerhalb der Bucht rauschte die Strömung und schoß durch den grünen Tunnel, den die überhängenden und miteinander verwachsenen Bäume und Kletterpflanzen bildeten.
    Gloria bückte sich, sammelte ein paar Äste vom Boden und legte

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