Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen
Feuer und schnarchten schauderlich. Serra ging durch die Reihen, trat Xinxaré kräftig in die Rippen, aber der rührte sich nicht. Seine Trunkenheit war wie Blei im Hirn.
»Jetzt könnten wir reinen Tisch machen, Hellmut«, sagte er und betrachtete die kleinen, langgestreckt liegenden Männer. »Wir könnten sie abstechen, und sie merken gar nichts davon. Einen humaneren Tod gibt es gar nicht. Was meinen Sie?«
»Das kriegten Sie fertig, Antonio? Von einem zum anderen gehen und ermorden?«
»Glauben Sie, die Yincas hätten in umgekehrter Lage die geringsten Skrupel?«
Peters hob schaudernd die Schultern. »Antonio, das bringen Sie nicht fertig!«
»Leider nicht«, sagte Serra dumpf. »Diese verdammte Moral! Sie bringt uns noch einmal um. Natürlich kann ich diese Burschen nicht abstechen wie Lämmer, aber daran denken darf man doch mal! Mit einem Schlag wären alle Probleme gelöst. Ich erinnere mich, daß es in der nordamerikanischen Geschichte Situationen gab, wo man weniger zurückhaltend war.« Er setzte sich auf einen großen Stein, schob noch einen Knüppel in das aufsprühende Feuer und starrte in die Flammen. »Hellmut, wenn ich es doch tue …«
»Um Himmels willen, nein!« stammelte Peters.
»Der erste ist der Schlimmste. Beim zweiten zittert man noch. Vom fünften an hat man sich daran gewöhnt und macht das, als wenn man Briefe stempelt.«
»Hören Sie auf!« knirschte Peters und hielt sich die Ohren zu. »Sie wären kein Mensch mehr, wenn Sie so etwas täten.«
»Blödsinn! Ich lebe weiter, das ist es. Und noch eins: Wenn wir diese besoffene Bande hier umlegen, haben wir fast eine Garantie, daß wir Gloria lebend bei den Ximbús herausholen! Hellmut, überlegen Sie sich das! Es geht um Ihre Gloria! Wer ist Ihnen mehr wert: Gloria oder diese Halbaffen, die wie Menschen aussehen?«
»Serra, das ist keine Frage, das ist eine Gemeinheit!«
»Sie Idiot!« Serra beugte sich vor und hielt seine Hände zum Wärmen über das Feuer. »Es geht jetzt einzig und allein darum, ob wir handeln sollen, solange die Kerle noch sinnlos besoffen sind.« Er zog die Hände von den Flammen zurück und rieb sie aneinander. »Ich bin kein Mörder, Hellmut, aber ich würde es tun, wenn wir uns darüber einig sind, daß es für alle besser ist. Na, wie ist Ihre Antwort?«
Peters starrte auf die herumliegenden kleinen, braunen Männer. Sein Herz krampfte sich zusammen, und als er schlucken wollte, war seine Kehle wie zugeschnürt.
21
Es gibt im Leben Entscheidungen, die man nie wieder rückgängig machen kann, die das Schicksal bestimmen und die den Mut abfordern, gegen die Vernunft zu stimmen, auch wenn man weiß, daß Vernunft in diesem Fall ein gefährlicher, ein alles wendender Luxus ist.
Hellmut Peters stand vor einer solchen Entscheidung; vor der grauenhaftesten Auseinandersetzung zwischen Moral und Vernunft, zwischen Menschlichkeit und Notwendigkeit. Er entschloß sich, ein Mensch zu bleiben, der nicht vor sich selbst zusammenschauern muß.
»Nein!« sagte er laut.
»Das kann Glorias Todesurteil sein«, sagte Serra leise.
»Wir hatten uns auf das Feuerwerk und auf den Überraschungseffekt geeinigt.«
»Das bleibt auch. Aber allein können wir in der allgemeinen Verwirrung Ihre Gloria mitnehmen. Zusammen mit Xinxaré sieht die Sache anders aus. Der denkt nur an seine Schrumpfköpfe. Außerdem will er die weiße Göttin auch haben.«
»Er weiß doch genau, daß Gloria ein Mensch wie wir ist.«
»Natürlich! Aber sein Volk soll an die weiße Göttin glauben. Jeder Politiker, und wenn er im Urwald haust, braucht ein Aushängeschild, ein Idol, einen Massenfänger. Xinxaré ist ein hochintelligenter Bursche, der nur das Pech hat, in einem unerforschten Gebiet dieser Welt geboren zu sein. Wäre er Franzose, hätten die jetzt einen neuen Napoleon, wäre er Deutscher, marschierte er längst gen Osten! Das ist die Lage, mein Lieber. Und wir haben jetzt die einmalige Möglichkeit, die Geschichtsentwicklung des Urwaldes zu beeinflussen!«
»Keinen Mord, Antonio!«
»Morgen früh werden Sie es bereuen, Hellmut.«
»Vielleicht. Aber ich werde ein sauberes Gewissen haben.«
»Die humanistischen Schwachköpfe! Ein sauberes Gewissen – aber mit Pauken und Trompeten in die Scheiße fallen!« Serra winkte ab, als Peters noch etwas sagen wollte. »Halten Sie den Mund! Die Sache ist erledigt. Die Burschen leben weiter, gut! Legen Sie sich in die Hütte und pennen Sie! Ein Moskitonetz ist noch da. Sehen Sie übrigens,
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