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Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen

Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen

Titel: Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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sie am Ufer nebeneinander. Als sie wie ein Floß aussahen, zeigte sie darauf und machte dann die Armbewegung des viel Größerseins.
    »Verstehst du, Xéré?« sagte sie dabei. »Größer, viel größer. Baumstämme neben Baumstämme, mit Lianen verschnürt.« Sie zeigte auf die Bäume und dann auf das Modell aus Ästen, machte die Bewegungen des Zusammenbindens und deutete dann auf den Fluß.
    »Dort hinauf, Xéré. Ich und du, mit dem Floß.« Sie zeigte wieder auf sich und Xéré, auf den Fluß und auf das Floßmodell und nickte ihm dann zu.
    Xéré verstand. Aber er schüttelte stumm den Kopf.
    »Doch, Xéré, doch! Ich muß weg!« sagte Gloria laut. »Ich kann doch nicht bei euch bleiben. Ich weiß, es ist unmöglich für euch, das zu begreifen, aber ich bin nicht das, was ihr in mir seht. Ich muß aus diesem Wald heraus, und die einzige Möglichkeit ist der Fluß. Komm, hilf mir, das Floß bauen.«
    Sie ging hinüber zu einem Platz, wo gefällte Bäume lagen, die man für Einbäume oder neue Hüttenbauten zurechtgelegt hatte. Sie zeigte auf ein paar gleich lange, nicht zu dicke Stämme und machte wieder die Handbewegung des Zusammenlegens.
    Xéré wandte sich ab. Sie will uns verlassen, dachte er. Sie will zurück zu ihren weißen Menschen. Wo leben diese weißen Menschen? Am Ende des Flusses? Wo ist das Ende des Flusses? Was kommt dann? Ein neuer Wald, ein anderer Fluß? Wo ist das Ende der Welt?
    Er starrte in das Wasser und wurde mit plötzlicher Heftigkeit von dem Konflikt zerrissen, vor dem er immer weggelaufen war: Was war stärker in ihm: die Liebe zu der weißen Frau, die Liebe zu seinem Volk oder der Drang, das Unbekannte jenseits der bekannten Grenzen kennenzulernen?
    Für Xéré war diese Frage die Entscheidung über sein ganzes Schicksal. Sein Volk brauchte ihn, aber es war auch unmöglich, weiter in der Unwissenheit zu leben. Da draußen lagen tausend Geheimnisse, deren Kenntnis alles Leben verändern konnte.
    Als Xéré sich bückte und den ersten Stamm zum Ufer schleifte, hätte Gloria vor Freude fast geschrien. Sie hatte gesiegt. Xéré hatte sie verstanden.
    Ein Floß! Sie bauten ein Floß. In acht oder zehn Tagen konnte es fertig sein. Mein Gott, was sind jetzt noch zehn Tage, wenn man weiß, daß die Freiheit mit jeder Stunde näherkommt.
    Ein Floß!
    Gloria packte beim zweiten Stamm mit an und schleppte ihn zusammen mit Xéré zum Ufer. Auf dem Dorfplatz sangen noch immer die Männer. Vier alte, für diese Tätigkeit ausgesuchte Frauen hatten begonnen, den toten Xumina in die konservierenden Blätter einzurollen. Vorher aber hatte der alte Häuptling noch die Brust des Toten aufgeschnitten und das Herz herausgeholt. Es wurde in einen leeren Kürbis gesteckt und dieser mit Blättern verschlossen.
    Ein wertvolles Herz, denn es schützte vor Geistern.
    In zehn Tagen sind wir auf dem Fluß, dachte Gloria wieder. Sie schleifte den dritten Stamm zum Ufer. Ob Hellmut Peters noch lebte?
    Sie blickte über den Fluß und sah sein Gesicht vor sich, die struppigen Haare, das jungenhafte Lachen und den verzweifelten Mut, mit dem er diese ihm völlig fremde, feindliche Welt erobern wollte.
    Armer Hellmut, dachte sie. Mein Gott, habe ihn nicht lange leiden lassen …
    Sie atmete ein paarmal tief durch, zwang ihre Tränen zurück und sah dann mit einem verzerrten Lächeln Xéré an, der sie betroffen musterte.
    »Ist schon gut, Xéré«, sagte sie leise. »Ein Ausflug in die Erinnerung. Ich war gerade dabei, zu begreifen, was Liebe ist …«
    In zehn Tagen ein Floß!
    Jetzt konnte nichts mehr passieren.
    Die Sturmtrupps der Yincas hatten den Fluß wieder erreicht. Nach Serras Berechnungen mußten sie sechs Meilen oberhalb der Ximbús sein, eine Strecke des Stromes, die niemand kannte.
    »Auf diesem Stück können die Tücken so massiv sein, daß uns der Hintern bis zum Kragen aufgerissen wird«, sagte Serra und sah den Fluß hinunter. »Nehmen wir an, wir müssen eine Felsbarriere passieren – was dann? Dann zerschellen wir an den Steinbrocken wie Eier, die man gegen eine Mauer wirft. Sandbänke sind weniger gefährlich. Da sonnen sich bloß die Krokodile.« Er sah Peters nachdenklich an und schnaufte durch die Nase. »Sie sind doch Wasserbauingenieur, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Los! Dann tun Sie mal was!«
    »Soll ich den Fluß umleiten, Sie Rindvieh?«
    »So dämlich können auch nur Sie reden! Sie sollen sich etwas einfallen lassen beim Bau unserer schwimmenden Inseln. Mann, Sie kennen doch die

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