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Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen

Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen

Titel: Eine Urwaldgöttin darf nicht weinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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als ganz nahe bei ihm irgendein Wesen wie eine entsetzte Frau zu kreischen begann. Dann flatterten unsichtbare Tiere um ihn herum, und er glaubte, das seien die Seelen der Ahnen, die jetzt erbost den Lebenden umkreisten, der es wagte, in ihre geheiligte Nacht einzudringen. Xéré hielt die Augen offen, obwohl er sie schließen wollte, um den Seelen zu zeigen, daß er nichts sehen wolle und nur halb ein ungehorsamer Ximbú sei. Aber dann nahm er doch allen Mut zusammen, überwand aus Liebe zu Gloria diese bis jetzt unüberwindbaren Schranken zwischen Göttern und Menschen, beugte sich über Gloria, schützte sie so mit seinem Körper und wartete ab.
    Es war eine grauenhafte Nacht, in der Xéré tausend Tode starb. Aber den richtigen Tod starb er nicht, weil er die Augen offenhielt.
    Irgendwann in dieser Nacht sah er einen Schatten zu sich hinhuschen. Er war plötzlich da, lautlos im Konzert der tausend nächtlichen Stimmen, ein schwarzes Wehen innerhalb der Dunkelheit, nur für den bemerkbar, der gelernt hat, vorsichtiger als ein Tier zu sein.
    Der Schatten glitt von Baum zu Baum, kam näher und verharrte drei Bäume von Xéré entfernt. Er war wieder mit der Nacht verschmolzen, unsichtbar, wesenlos.
    Xéré hatte die Beine angezogen und alle Muskeln gespannt. Er saß zusammengekauert und doch sprungbereit wie ein Raubtier, starrte auf die Stelle, wo der Schatten verschwunden war, und hielt den Atem an.
    Kam einer der nächtlichen Götter zu ihm? War es die noch frische Seele des jungen Häuptlings? Er schob ganz langsam sein Blasrohr an den Mund und wartete. Wie ein heftiges Frieren durchzitterte die Erregung seinen Körper.
    Kann man Seelen mit einem Blasrohr verjagen? Er wußte darauf keine Antwort, aber er war bereit, es zu versuchen, um Gloria zu beschützen.
    Der Schatten!
    Er glitt lautlos hinter dem Baum hervor und huschte weiter. Noch ein paar Schritte, und er kam an den Platz, wo Gloria lag und schlief.
    Xéré zog die Luft durch die Nase ein und sammelte sie in seinem Brustkorb. Das Blasrohr lag an seinen Lippen; die tödliche Waffe war geladen. Ein kurzer, kräftiger Atemstoß, und der Pfeil würde herausschießen. Daß er traf, wußte Xéré. Er war einer der besten Schützen seines Volkes.
    Der Schatten blieb stehen, als beobachte er Gloria und Xéré. Gloria war in der Dunkelheit zu sehen. Sie bildete einen weißen Fleck, aber Xéré an seinem Baum war ein Teil der Rinde geworden, und das ließ auch den Schatten vorsichtig werden.
    Irgend etwas ließ Xéré handeln. War es das natürliche Gefühl für höchste Gefahr, oder war es eine Bewegung des Schattens, die nur er sah, er stieß die Luft aus, der Pfeil glitt lautlos aus dem Blasrohr und traf.
    Plötzlich hatte der Schatten Arme, die sich hoch in den Nachthimmel streckten, das Wesenlose wurde körperlich und fiel in den aufraschelnden Farn, knickte ein paar trockene Zweige und wälzte sich mit einem leisen Ächzen über den Boden.
    Xéré rührte sich nicht. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf den dunklen Klumpen, der sich wälzte, zu zucken begann und menschenähnliche Laute ausstieß. Erst als die Töne verebbten, als der Schatten still lag, stand Xéré vorsichtig auf und schlich sich näher.

22
    Was es auch war, der Pfeil hatte es getötet, das sah Xéré sofort. Das Wesen rührte sich nicht mehr, als er vor ihm stand und es leise ansprach.
    »Steh auf!« sagte er. »Steh auf. Ich bin Xéré.« Erst da, als keine Antwort erfolgte, wußte er, daß die Nacht nicht allein den Unsterblichen gehörte, sondern auch andere Menschen wie er die heilige Dunkelheit durchbrochen hatten.
    Er beugte sich hinunter und erkannte eine Gestalt, die mit einer Art Blättermantel bekleidet war. Und bevor er noch das Gesicht des Toten nach oben drehte, wußte er, daß es Xumina war, der Medizinmann, der gekommen war, um in dieser Nacht Gloria zu töten.
    Es wäre so einfach und wirkungsvoll gewesen: Xéré, den Ungehorsamen, hatten die Geister besiegt, und die gesammelte Macht aller Nachtgötter war größer gewesen als die der Sonnengöttin.
    Wen konnte das nicht überzeugen? Das ewige Ringen zwischen Tag und Nacht, erlebte man es nicht? Kam es nicht oft vor, daß plötzliche Dunkelheit über den sonnigen Himmel zog und die Nachtgötter in das Reich der Sonnengöttin eindringen wollten? Dann zerrissen Flammen den Himmel, und die Götter brüllten donnernd, und man sah, wie sie aufeinanderprallten. Dann aber siegte doch immer wieder die Sonne, weil es ihre

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