Eine verlaessliche Frau
begriff gar nichts mehr. Er hat am Ende seinen Verstand verloren. Es ist nicht sein Gehirn. Ich weià es nicht. Meine Schwester war einmal sehr krank. Wir gaben ihr Milch und EiweiÃ, damit sie sich erbrach. Geben Sie ihm das. Er friert sehr. Halten Sie ihn warm. Was können wir noch tun?«
»Die Alten ⦠es gibt auf den Feldern Kräuter gegen die Schmerzen. Um die Furunkel zu beseitigen.«
»Dann fragen wir sie. Wir besorgen, was wir bekommen können. Es ist immer noch Winter. Viel gibt es nicht. Passen Sie auf ihn auf. Ich werde nach Chicago fahren und zu einem Arzt gehen, einem richtigen Arzt. Ich werde ihn fragen, was man tun kann.«
Sie fuhr nach Chicago, um die arme India mit dem traurigen Gesicht zu besuchen. India, die auf dem Photo war. India, die der reiche Ralph Truitt eigentlich unter all den Frauen ausgewählt hatte, die eigentlich selbst Seidenkleider hätte tragen und durch die Marmorhallen hätte laufen sollen. Sie würde nie erfahren, wo ihr Photo hingekommen war. Sie würde nie erfahren, dass vielleicht sie als Hausherrin jener hohen Räume mit den Fresken geliebt und respektiert worden wäre. Und Truitt hätte mit ihr sein Glück gefunden, sein kleines Glück. Er läge jetzt nicht im Sterben, wenn es India gewesen wäre.
Catherine hatte India immer geliebt, ihre simple Schüchternheit und ihren Mangel an Möglichkeiten. Sie wollte ihr erzählen, dass Ralph Truitt sie geliebt hatte, wollte ihr sagen, dass er ihr Photo ausgewählt hatte und es liebte, weil sie anschlieÃend vielleicht, im Wissen, dass sie geliebt wurde, auf eine andere Weise ein Zimmer betreten oder eine StraÃe entlanggehen könnte.
Es war leicht, sie anzulügen. Es war leicht gewesen, ihr zu erzählen, dass sie schon immer ein Photo von ihr gewollt hatte, als Souvenir, und so die schüchterne India zu überreden, sich vor eine photographische Platte zu setzen.
Jetzt war es genauso leicht, ihr so viel zu erzählen, wie sie zu wissen brauchte, und sie darüber anzulügen, wofür sie es brauchte. India hatte ihr Leben damit zugebracht, das Leben anderer Menschen zu betrachten, in Schaufenster zu schauen, das Leben durch das dünne Glas ihres eigenen unscheinbaren Aussehens zu betrachten, und sie hatte alles registriert und in ihrem Geist verstaut, ihr einziger Schatz. Es war ihr einziges Rüstzeug, ihr Schutz vor der Einsamkeit, die sie nie verlieÃ, vor den hässlichen Männern und einem traurigen, traurigen Leben.
India umarmte sie. India hielt ihr die Hand. India hörte ihr zu, nickte, und dann holte sie ihren Hut und Mantel und sagte die einzigen Worte, die sie während Catherines langer Lügengeschichte ausgesprochen hatte: »Lass uns in die Stadt gehen.«
Chicago übertraf Saint Louis noch an Lärm und Chaos. Sie liefen durch groÃe und kleine StraÃen, kamen nach Chinatown und zu einem kleinen Laden mit schmutzigen Fenstern. Drinnen verbeugte sich ein Chinese mit vollendeter Höflichkeit vor ihnen und lauschte Catherines Version der Geschichte. Bei dem Wort Arsen hörte die Luft im Raum für einen Augenblick auf, sich zu bewegen. Catherine dachte, sie würde in Tränen ausbrechen, sie würde vor Schuldgefühl und Angst aufheulen, aber sie fuhr fort, als wäre nichts geschehen. Die Luft begann, sich wieder zu bewegen. India atmete, und die Räder drehten sich weiter, die Uhr tickte wieder.
Der Chinese verbeugte sich noch einmal, lächelte breit und begann, hastig in seinem dunklen Laden hin und her zu laufen, holte Fläschchen mit Pulver von einem Regal, milchige Flüssigkeiten von einem anderen und suchte alte und geheime Gegenmittel zu schrecklichen, vernichtenden Substanzen zusammen. Hin und wieder hielt er inne und lächelte, als würde er einen Witz erzählen.
»Brandy«, sagte er. »Das wärmt ihm den Bauch.«
»Opium«, sagte er, »um den Magen zu beruhigen. Macht ihn glücklich. Schlechte Träume gehen weg.« Er schnitt Opium in winzige wächserne Kugeln.
»Jeden Tag eine, bis seine Träume klar und rein sind. Frische Träume.«
Als er fertig war, standen da acht Fläschchen, und sie kosteten ein Vermögen, und Catherine bezahlte und trug die Fläschchen und Gläser in einem schlichten braunen Beutel aus dem Laden. Sie vergrub ihn tief in einer groÃen schwarzen Tasche, die sie dabeihatte, und lud India zum Abendessen ein.
Sie
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