Eine verlockende Braut: Roman (German Edition)
stolperte, blies ihm der scharfe Wind immer wieder Regen ins Gesicht, sodass er kaum etwas sehen konnte. Er stolperte und wäre beinahe gefallen, ehe er schließlich an den alten Wohnturm kam, der auf der Kuppe einer steilen Anhöhe stand.
Das Gebäude aus Lehm und Holzbalken hatte den Sinclairs als Heim und Festung gedient, seit sie vor mehr als fünfhundert Jahren aus ihrer Burg vertrieben worden waren. Das Torhaus und die meisten anderen Außenanlagen waren vor langer Zeit niedergebrannt, sodass nur der Wohnturm selbst übrig war und den Elementen trotzte. Und selbst dieser zeigte an einigen Ecken Zeichen des Verfalls, sodass man unmöglich vorhersagen konnte, wie viele Jahre er noch überdauern würde.
Emmas leblose Gestalt an seiner Brust bergend begann Jamie mit der Faust gegen die grob gezimmerte Holztür zu hämmern. »Öffnet die verdammte Tür!«
Es gab keine Antwort auf sein Hämmern oder sein verzweifeltes Rufen. Sein Großvater und er hatten sich nicht in bestem Einvernehmen getrennt, als sie das letzte Mal miteinander gesprochen hatten, aber er kannte es nicht von seinem Großvater, dass er ihm in einem Augenblick der Not den Rücken kehrte. Daher schlug er weiter mit der Faust gegen die Tür und schrie weiter, bis seine Knöchel und seine Kehle wund waren.
Seine Verzweiflung wich Wut. Er würde hier nicht einfach im strömenden Regen stehen, während Emma in seinen Armen starb. Er machte gerade einen Schritt zurück, um der Tür einen Tritt zu geben, als sie sich mit einem rostigen Knarren öffnete. Der dunkle Spalt zwischen Rahmen und Tür weitete sich langsam, und ein Gesicht erschien, das ihm so vertraut war wie sein eigenes.
Jamie starrte seinen Großvater an, und seine Miene war wild entschlossen und zugleich flehentlich. »Geh zur Seite, alter Mann. Dein Enkel ist heimgekehrt.«
Das Letzte, woran Emma sich erinnern konnte, nachdem die Schlucht in einer schmerzhaften Wolke explodiert war, war, dass sie gefallen war, so hart und so schnell, dass Jamie sie nicht auffangen konnte.
Dann war alles dunkel um sie herum geworden wie die schwärzeste Nacht. Aber selbst in den verschwommenen Stunden und Tagen, die darauf folgten, war Jamie da gewesen – seine großen rauen Hände, die sie mit einer Zärtlichkeit aufrichteten, zu der sie von Rechts wegen nicht hätten imstande sein dürfen; seine brummende Stimme, die sie überredete, ihren Mund weiter zu öffnen, damit er ihr mit dem Löffel eine bitter schmeckende Brühe einflößen konnte; seine kühlen Lippen, die ihre Stirn streiften, als sie im Fieber zu brennen schien; seine warmen Arme, die sie umfingen, als der Schüttelfrost sie erfasste; sein gesenkter Kopf, wenn er ihre schlaffe Hand hielt und Gott anflehte, sie am Leben zu lassen.
Daher war es keine Überraschung, dass seine Gegenwart das war, was sie spürte, als der erste Lichtschimmer die zurückweichenden Schatten zu durchdringen begann. Langsam zwang sie ihre Augen auf, wartete, dass alles aufhörte, sich um sie zu drehen, und die schwankende Welt wieder scharf wurde. Nachdem das schließlich geschah, blickte sie in die sanften Augen eines riesigen gefleckten Untiers, das vor dem aus groben Steinen gemauerten Kamin mit einem knisternden Feuer hockte.
»Warum ist hier ein Pony?«, fragte sie und merkte verwundert, wie rau ihre Stimme klang.
»Das ist kein Pony. Es ist ein Hund.«
Sie betrachtete die riesige Kreatur mit zusammengezogenen Brauen. »Das, verehrter Herr, ist kein Hund.«
»Doch. Ein Hirschhund.«
Als das Geschöpf seine langen Glieder zusammenfaltete und sich hinlegte, wurde die Falte zwischen ihren Brauen tiefer. »Bist du sicher, dass es kein Hirsch ist?«
Vorsichtig drehte sie den Kopf, verzog das Gesicht, weil ihr Hals doch noch sehr steif war, und blickte in ein Paar hellgrüne Augen, umringt von einem dichten Kranz silberfarbener Wimpern. Sie erschrak. Der Mann, mit dem sie gesprochen hatte, war gar nicht Jamie, sondern Jamie, wie er in vierzig Jahren aussehen würde.
Sein volles Haar war vielleicht weiß wie Raureif und sein Gesicht so verwittert wie der Felsen auf dem Berg, aber das Alter hatte diesem Mann, anders als bei dem Earl, seine Lebenskraft nicht rauben können. Er besaß immer noch die beeindruckenden Schultern und die raue Vitalität eines wesentlich jüngeren Mannes. Er trug einen grün-schwarzen Tartankilt und ein Hemd mit einem Rüschenfall an Hals und Manschetten, die ihn aussehen ließen, als gehörte er von Rechts wegen in ein Gemälde
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