Eine verlockende Braut: Roman (German Edition)
diejenigen, die unter ihm standen – und dazu gehörten fast alle, die er kannte, Ian eingeschlossen – in seine erlauchte Gegenwart bestellen konnte.
Da Ian nicht herbeordert worden war, hätte es ihn nicht überraschen sollen, dass sein Onkel es vorzog, sein ungewöhnliches Eintreffen hier zu ignorieren. Der Earl stand vor dem großen Fenster, durch das man direkt auf die majestätischen Umrisse des Ben Nevis blickte, die Hände im Rücken verschränkt und ein wenig breitbeinig, als sei das Arbeitszimmer das Deck eines Schiffes und er der Kapitän. Er spielte die Rolle des freundlichen Tattergreises perfekt, wenn es seinen Zwecken diente – als er um seine junge Braut warb –, aber hier in seinem sicheren Hafen regierte er immer noch mit eiserner Faust.
Ian hatte ihn zahllose Male in genau dieser Pose hier stehen sehen: vor diesem Fenster und den Blick auf den Berg gerichtet, als versuchte er zu verstehen, warum er ihn sich nicht gefügig machen konnte, obwohl er den Rest der Welt so mühelos erobert hatte. Ian hegte schon lange den Verdacht, dass sein Onkel seinen gesamten Einfluss und jede einzelne von den Kostbarkeiten, die er über die Jahre angehäuft hatte, eintauschen würde für die Gelegenheit, diese Gipfel zu beherrschen und die Männer, die so unbeugsam, halsstarrig und arrogant waren, sie ihr Zuhause zu nennen.
Einen Mann im Besonderen.
Ian räusperte sich. Sein Onkel rührte sich nicht. Ian konnte Bitterkeit in sich aufsteigen spüren wie Galle in der Kehle; der Geschmack war bitter und vertraut. Trotz des fortgeschrittenen Alters des Mannes wusste Ian, sein Onkel konnte es immer noch hören, wenn ein Lakai mehrere Zimmer weiter eine Gabel auf den Teppich fallen ließ.
Er trat zum Fenster, und es gelang ihm kaum, seine Erbitterung darüber, wie irgendein niedriger Diener behandelt zu werden, im Zaum zu halten. »Auf ein Wort, Mylord, wenn es recht wäre?«
»Und was für ein Wort soll das sein?«, erwiderte sein Onkel ruhig, ohne den Blick von dem schneebedeckten Berggipfel abzuwenden. »Desaster? Katastrophe? Unglück?«
»Marlowe!« Ian spie den Namen aus, als sei er ein Mundvoll Gift. »Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich darauf bestehen, dass Sinclair zurückkommt und Ihnen die gesamte Familie abnimmt.«
»Sicherlich sprichst du nicht von der reizenden Verwandtschaft meiner Braut?«
»Reizend? Im Augenblick jedenfalls nicht, fürchte ich. Ihre Mutter und ihre Schwestern schluchzen und heulen sich die Seele aus dem Leib, seit Miss Marlowe entführt wurde. Natürlich ist es Ernestine gelungen, ihr Weinen so lange zu unterbrechen, um mich im Empfangssalon in die Ecke zu drängen und vorzuschlagen, dass Sie vielleicht nicht der einzige Hepburn sind, der eine Braut gebrauchen könnte.« Er erschauerte. »In der Zwischenzeit hat ihr Vater es sich zur Aufgabe gemacht, jede einzelne Karaffe mit Brandy oder Portwein, die sich in der ganzen Burg auftreiben lässt, zu leeren. Man hat den Eindruck, als glaube er, es sei irgendwie seine Schuld, dass seine geliebte Tochter von einem wilden Schotten verschleppt wurde. Wenn er die Whisky-Fässer im Verlies findet«, warnte Ian finster, »fürchte ich, er wird sich darin ersäufen.«
Sein Onkel musterte weiter die Berge, als überlegte er sich einen Plan, sie dem Allmächtigen selbst zu entreißen. »Du hattest immer schon den Charme und die Gerissenheit eines Diplomaten«, sagte er schließlich, ohne sich die Mühe zu machen, die Verachtung aus seiner Stimme herauszuhalten. »Ich bin sicher, ich kann dir vertrauen, dass es dir gelingt, ihre Verärgerung und Aufregung zu beschwichtigen.«
Ian kam nah genug, um das unergründliche Profil seines Onkels betrachten zu können. Seine Erbitterung wuchs. »Ich kann ihnen schwerlich Vorwürfe machen, dass sie sich sorgen. Es ist ja schließlich nicht so, als hätten sie ihren Lieblingsteekessel verlegt. Sinclair hat Miss Marlowe mittlerweile seit mehr als vierundzwanzig Stunden in seinen Klauen, und ich muss Sie ja nicht erst daran erinnern, wie erbarmungslos der Mann sein kann. Verzeihen Sie mir die Unverschämtheit, Mylord, aber ihre Familie versteht nicht, warum Sie nicht die Gesetzeshüter von dem Vorfall unterrichtet haben. Und wenn Sie es wissen wollen, ich auch nicht.«
»Weil ich das Gesetz bin!«, brüllte sein Onkel. Er fuhr mit einer Heftigkeit zu Ian herum, die zu einem Mann passen würde, der nur etwa halb so alt war wie er. Seine Augen, umrahmt von den tief hängenden Tränensäcken,
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