Eine verräterische Spur: Thriller (German Edition)
in seiner Brust breit. Er nahm sich vor, die Mädchen am Wochenende anzurufen. Sonntagabend waren sie immer zu Hause.
In den nächsten Familienfotos würde er zu sehen sein. Er und Anne und die Kinder, die sie miteinander haben würden. Er dachte an die vergangene Nacht, als er mit Anne und Haley im Arm dagesessen hatte.
Er dachte an Zander Zahn, der vermutlich keine Fotos aus seiner Kindheit hatte – und sicher auch keine haben wollte, die ihn doch nur an diese qualvolle, schreckliche Zeit erinnerten. Er wollte nicht einmal die Erinnerungen haben – deshalb hielt er sie in einem verschlossenen Bereich seines merkwürdigen Gehirns unter Verschluss. Statt mit Erinnerungen umgab er sich mit Dingen. Greifbaren Dingen, die er anfassen und festhalten konnte. Dingen, die ihn niemals im Stich lassen würden. Wie viel dieses Zimmer mit den Prothesen über ihn erzählte – in seinem Leben gab es keine vollständige Person, nur einzelne Teile. Sie konnten ihm nicht wehtun.
Vince holte tief Luft, stieß einen Seufzer aus und rieb sich mit der Hand übers Gesicht, bevor er seine Aufmerksamkeit erneut Gina Kemmers Fotos zuwandte.
Das erste, auf dem Marissa zu sehen war, datierte aus dem Jahr 1971. Schon als junges Mädchen hatte sie mit ihren funkelnden, dunklen Augen und den dunklen Haaren, die ihr in Wellen über die Schultern fielen, umwerfend ausgesehen. Sie war wie ein Hippie angezogen: Schlaghosen, ein Peace-Zeichen um den Hals und ein Lederband um die Stirn. Gina war in der gleichen Aufmachung unterwegs. Auf der Rückseite stand in mädchenhafter Schrift: Missy und ich, Sept. 1971.
Sie waren zusammen aufgewachsen. Busenfreundinnen. Wie Schwestern. Schule. Freunde. Ferien. Ausflüge.
Also warum diese Lüge? Warum behaupteten sie, sie hätten sich erst 1982 in Oak Knoll kennengelernt? Wen hätte es interessiert, woher sie kamen? Wen hätte es interessiert, wie lange sie sich schon kannten? Und warum hatte Melissa Fabriano ihren Namen geändert? Hatte sie einfach noch einmal von vorn anfangen wollen? War sie vor jemandem in Los Angeles geflohen? Vielleicht war es in ihrer Familie nicht so idyllisch zugegangen wie bei den Mittelschicht-Kemmers aus Reseda. Vielleicht war Haleys Vater gewalttätig gewesen. Vielleicht gab es gar keine Erpressung. Vielleicht hatte der gewalttätige Vater ihres Kindes sie zu guter Letzt aufgespürt und ihrem schönen geheimen Leben im schönen Oak Knoll ein Ende gemacht.
Aber warum hatte Gina dann seinen Namen nicht preisgegeben? Ihr drohte doch ebenfalls Gefahr von ihm. Warum sagte sie nicht einfach, wer er war?
Die Tür ging auf, und herein kam Mendez mit einer Tüte aus dem Carnegie West Deli. »Falls in dieser Tüte warmes Pastrami auf Roggenbrot ist, kriegst du einen Kuss von mir.«
»Aber ohne Zunge«, sagte Mendez. »Ich gehöre nämlich nicht zu der Sorte Mädchen.« Er stellte die Tüte auf einem der Tische ab und fing an, die Sandwiches auszupacken. »Was gefunden?«, fragte er und deutete mit dem Kopf auf die Fotos.
»Bislang mehr Fragen als Antworten. Gina und Marissa kannten sich schon sehr lange. Gina und Melissa sollte ich wohl besser sagen. Seit der siebten oder achten Klasse.«
»Warum haben sie dann so getan, als würden sie sich erst seit vier Jahren kennen?«
»Das ist die Frage. Falls Marissa vor jemandem in Los Angeles davongelaufen ist und ihren Namen geändert hat, wäre es doch ziemlich egal gewesen, ob sie und Gina sich kannten.«
»Vielleicht wollte Marissa sich eine völlig neue Identität zulegen – oder musste es aus irgendeinem Grund –, und Gina wollte nicht mit einer Lüge leben.«
»Vielleicht …«
Vince stand auf und streckte sich, nahm sein Sandwich und sog durch das Einwickelpapier hindurch den Geruch ein.
»Ich habe Pastrami vor zehn Jahren aufgegeben«, sagte er. »Gleichzeitig mit dem Rauchen. Die große Midlife-Gesundheitskrise.«
»Und dann?«
»Dann hat mir jemand in den Kopf geschossen, und ich habe es überlebt. Ein paar Scheiben Pastrami werden mich da nicht umbringen.«
»Hast du vor, auch wieder mit dem Rauchen anzufangen?«, fragte Mendez und suchte an seinem Fleischbällchen-Sandwich nach einer geeigneten Stelle zum Hineinbeißen.
»Ich bin nachsichtig mit mir, nicht bescheuert«, erwiderte Vince. »Und? Hat Bordain verlangt, dass du gefeuert wirst?«
»Nein. Er hat mich zum Golfspielen eingeladen. Er ist ganz anders als seine Frau.«
»Du magst ihn also?«
»Es ist schwer, ihn nicht zu mögen. Er ist charmant,
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