Eine verräterische Spur: Thriller (German Edition)
Mommy?«, fragte Haley. Sie schob sich einen Löffel Suppe in den Mund und hatte sofort einen Tomatensuppenschnurrbart.
»Sie ist ein Engel im Himmel«, sagte Anne.
»Das ist gut. Kennt sie meine Mommy?«
»Vielleicht.«
»Und wo ist dein Daddy?«
»Er wohnt in einem Haus auf der anderen Seite der Stadt.«
»Warum?«
»Weil das sein Zuhause ist.«
»Warum wohnst du nicht in seinem Haus?«
»Weil das hier mein Zuhause ist. Vince und ich sind verheiratet, und das hier ist unser Zuhause.«
Haley dachte darüber nach und aß noch ein paar Löffel Suppe. »Ich würde lieber im Haus von meinem Daddy wohnen.«
»Wirklich?«, sagte Anne. »Wo ist denn das Haus von deinem Daddy?«
»Weiß nicht.«
»Wie sieht dein Daddy aus?«
»Weiß nicht.«
»Ist er groß, so wie Vince?«
»Nein.«
»Hat er einen Schnurrbart?«
»Nein.«
»Hat er orangefarbene Haare?«
Haley lachte. »Nein! Das ist komisch!«
»Hat er blaue Haare wie ein Schlumpf?«
»Nein!«
»Hat er etwa überhaupt keine Haare?«
Das kleine Mädchen bekam einen Lachanfall und ließ sich auf die Bank plumpsen. Anne richtete sie wieder auf. »Komm, du albernes Ding, iss deine Suppe, bevor sie kalt wird.«
Haley nahm noch ein paar Löffel. Anne kannte sie inzwischen gut genug, um zu sehen, wie sich in ihrem Kopf die Rädchen drehten, wie sie angestrengt nachdachte.
»Anne?«, sagte sie schließlich.
»Ja?«
»Kannst du meine Mommy sein, bis meine Mommy aufhört, ein Engel zu sein?«
In Annes Augen brannten Tränen, als sie Haley an sich zog und ihr einen Kuss auf den Scheitel gab. »Ich werde deine Mommy sein, so lange ich kann«, flüsterte sie. »Wie wäre das?«
Haley nickte, kletterte auf Annes Schoß und schob, plötzlich müde geworden, den Daumen in den Mund.
»Willst du ein bisschen schlafen, Schätzchen?«, fragte Anne leise.
»Nein.«
»Nein? Du siehst aber ziemlich müde aus.«
»Nein!«, jammerte Haley.
»Warum denn nicht?«
»Dann kommt der böse Daddy!«
»Ich bleibe bei dir, dann kann dir der böse Daddy nichts tun, einverstanden?«
Zwei große Tränen quollen aus Haleys Augen. »Nein! Der böse Daddy tut dir auch was!«
»Nein, Schätzchen, bestimmt nicht. Wir sind hier sicher. Erinnerst du dich?«
Haley war noch nicht überzeugt und schluchzte mit dem Daumen im Mund noch ein paarmal.
»Weißt du was?«, sagte Anne. »Wir denken jetzt einfach nicht mehr an den bösen Daddy. Wir spielen ein Spiel. Hast du Lust auf ein Spiel?«
»W-w-was für ein Spiel?«
»Wir spielen ›Ich stelle mir was vor‹. Kennst du das?«
Haley schüttelte den Kopf.
»Du weißt, wie der böse Daddy aussieht«, sagte Anne. »Welche Farbe haben seine Kleider?«
»Sch-schwarz.«
»Jetzt nicht mehr«, sagte Anne. »Wir machen sie weiß. Weiß mit großen rosa Tupfen. Kannst du dir das vorstellen?«
Haley hickste und nickte.
»Und er hat riesengroße schlabbrige Clownsschuhe an. Kannst du dir das auch vorstellen?«
Dieses Mal nickte sie ein bisschen schneller.
»Und hat er vielleicht auch eine große runde rote Nase?«
Nicken.
»Und die tutet wie eine Hupe, wenn man draufdrückt. Kannst du dir das vorstellen?«
»Ja.«
»Jetzt ist er nicht mehr der böse Daddy. Jetzt ist er ein lustiger Clown. Kannst du dir das vorstellen?«
Keine Antwort. Anne blickte nach unten. Haley war eingeschlafen.
Sie rutschte ein Stück zurück und suchte sich mit der schlafenden Haley auf dem Schoß eine bequemere Position. Es war kurz vor eins. Sara Morgan hatte angerufen und gefragt, ob sie Wendy vorbeibringen dürfe, ein Besuch, der sowohl Wendy als auch Haley guttun würde.
Anne wusste, dass Wendy eine schwierige Zeit durchmachte, und Sara klang, als sei sie am Ende ihrer Kräfte. Wie es aussah, würden sie und Steve sich trennen. Das wäre für Wendy ein weiterer Schlag. Anne wollte ihr das Gefühl vermitteln, dass sie immer zu ihr kommen konnte, wenn sie das Bedürfnis danach hatte.
Mist. Sie würde es heute nicht mehr schaffen, zu Dennis zu fahren. Sie musste anrufen und der Oberschwester Bescheid sagen. Dr. Falk würde sie ebenfalls anrufen.
Sie verspürte Gewissensbisse. Sie ließ nicht gern eine Sitzung mit ihm ausfallen, vor allem, wenn sie ihm ein Versprechen gegeben hatte. Sie hatte beim Buchladen haltgemacht und als Belohnung für ihn zwei Comics gekauft. Natürlich blieb abzuwarten, ob er die ihm gestellte Aufgabe auch erledigt hatte. Trotzdem tat es ihr leid, dass sie ihr Versprechen nicht halten konnte. In seinem kurzen Leben hatten ihn
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