Eine Versammlung von Krähen (German Edition)
zu sein. Er bemühte sich, der Administration des neuen Präsidenten mehr Zeit zuzugestehen, um den Schlamassel seiner Vorgänger in Ordnung zu bringen. Immerhin hatte er einen Karren übernommen, der tief im Dreck steckte. Es fiel schwer, sich nicht von etwas desillusionieren zu lassen, das so durch und durch verkorkst war wie das amerikanische Politsystem. Trotzdem hatte er der neuen Riege eine Chance gegeben und auf die Veränderung gehofft, die während des Wahlkampfs gebetsmühlenartig versprochen worden war.
Er musste zugeben, dass es unter dem Strich besser wurde und die Krisennachrichten mehr und mehr verstummten. Aber was ihn persönlich betraf, so war er noch immer arbeitslos. Heutzutage gab es nicht allzu viele freie Stellen für Schreiner oder Glasbläser. Ansonsten hatte sich Stephen lediglich vorübergehend als Dealer beim Blackjack und Croupier beim Roulette durchgeschlagen. Mit 55 und mittlerweile ergrautem Bart und Haaren, die ihm bis auf die Mitte des Rückens hingen, war er zu alt, um in diese Branche zurückzukehren.
Deshalb kurvte er durchs Land und putzte Klinken. Er war mit einem Katalog voll Arbeitsmuster unterwegs und hatte versucht, Kunsthandwerksmärkte und Antiquitätenläden aufzutreiben, die seine Holzarbeiten und Buntglaswaren abnehmen wollten. Stephen war kein besonders geselliger Mensch, weshalb es ihm widerstrebte, einen Laden nach dem anderen abzuklappern und Small Talk mit den Besitzern zu halten, aber ihm blieb keine andere Wahl. Er musste genug Partner finden und ausreichend Waren an den Mann bringen, um seine Familie aus eigener Kraft zu ernähren. Und wenn er das schon nicht schaffte, dann wollte er zumindest seine mageren Arbeitslosenschecks ein bisschen auffetten.
Er hatte im Leben immer Glück gehabt, und da seine dritte Ehe seit mittlerweile 23 Jahren hielt, betrachtete sich Stephen insgesamt als Glückspilz. Die Dinge würden sich ändern.
Es würde wieder besser werden.
Es musste besser werden.
»Sieh immer das Positive«, flüsterte er sich zu. »Zumindest hast du noch deine Gesundheit.« Und das stimmte. Mit einer Größe von etwas über 1,85 und rund 88 Kilogramm erfreute sich Stephen einer bemerkenswert guten körperlichen Verfassung, vor allem, wenn man seinen Lebensstil berücksichtigte. Zugegeben, durchtrainiert war er nicht. Er besaß nicht die Muskulatur eines Bodybuilders, trotzdem fühlte er sich wesentlich gesünder, als er in diesem Alter erwartet hätte.
Er ging zur Vorderseite des Wagens und legte die Handflächen auf die Motorhaube. Das Metall fühlte sich warm, aber nicht heiß an. Weder Dampf noch Rauch quoll hervor. Er tastete herum, fand die Entriegelung und löste sie. Er starrte den Motorblock an wie ein Buch mit sieben Siegeln. Selbst wenn er genau gewusst hätte, worauf er achten musste, wäre es ihm schwergefallen, in der Dunkelheit Details zu erkennen.
Er drehte sich um und betrachtete das Ortsschild. Ihm fiel auf, dass es jemand mit Schrotkugeln beschossen hatte. Kopfschüttelnd ließ er den Blick zur Stadt wandern, und da fiel ihm auf, dass nirgendwo Lichter brannten. Sicher, es war Nacht, und die meisten Bewohner schliefen wahrscheinlich, trotzdem hätte irgendeine Beleuchtung sichtbar sein müssen. Die Straßenlaternen funktionierten nicht. Auch in den Fenstern der Häuser schimmerten keine Lampen. Alles stockfinster. Möglicherweise ein Stromausfall?
Er nahm eine flatternde Bewegung im Augenwinkel wahr, die seine Aufmerksamkeit erregte. Eine riesige schwarze Krähe glitt vom kohlefarbenen Himmel herab und landete auf einer der erloschenen Straßenlaternen. Mit schief gelegtem Kopf starrte ihn der Vogel an. Dann öffnete er den Schnabel und krächzte. Das Geräusch erinnerte Stephen an rostige Türangeln, nicht an den normalen Ruf eines Rabenverwandten. Es klang eher wie eine verstümmelte, kehlige Sprache, die menschlichen Stimmbändern entsprang. In der Stille klangt es unnatürlich laut.
»Hey, Kumpel«, sagte er zu der Krähe. »Du könntest mir wohl nicht den Automobilklub rufen, oder?«
Die Krähe musterte ihn stumm, dann krächzte sie erneut.
»Nein? Nun, das dachte ich mir fast.«
Der Vogel krächzte ein drittes Mal. Hätte Stephen es nicht besser gewusst, hätte er geglaubt, dass sich englische Silben in den Ruf mischten.
»Hau ab, du verrücktes Biest.«
Stephen wandte die Aufmerksamkeit wieder dem Motorraum zu.
Er beugte sich vor und schnupperte, aber es roch nicht verbrannt. Zwar nahm er den Geruch von
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