Eine Versammlung von Krähen (German Edition)
nicht recht zu wissen, wohin sie laufen sollten. Levi hob grüßend eine Hand, und sie blieben stehen.
»Wissen Sie, was hier los ist?«, wollte einer von ihnen wissen.
Levi schüttelte den Kopf. »Nein, aber es hört sich übel an, was immer es ist. Vielleicht wäre es für Sie beide sicherer, drinnen bei Ihren Familien zu bleiben.«
Der zweite Mann gab einen höhnischen Laut von sich und sah Levi an, als hätte er ihnen gerade einen tollwütigen Hund angeboten.
»Drauf geschissen«, sagte er. »Ich denke eher, das Beste, was wir für unsere Familien tun können, ist, rauszufinden, was zum Teufel in dieser Stadt vor sich geht. Erst fällt der Strom aus. Dann führen sich die verfluchten Hunde wie verrückt auf und drehen durch. Und jetzt schreien alle und ballern durch die Gegend.«
»Ich wette, es ist Al-Qaida«, murmelte der Erste. »Schätze, sie könnten es auf Herb Causlins Rinderfarm abgesehen haben.«
»Glaubst du echt, Marlon?«
»Ja. Ich denke, sie wollen die Lebensmittelversorgung in Amerika lahmlegen. Herbs Rinder wären dafür ein guter Anfang.«
»Das stimmt.« Der zweite Mann verlagerte den Griff um das Gewehr. »Schätze, du könntest recht haben.«
»Ich glaube wirklich nicht, dass es Al-Qaida ist«, warf Levi ein. »Warum sollten die Terroristen ausgerechnet eine kleine Rinderfarm in West Virginia ins Visier nehmen?«
Die Männer starrten ihn stirnrunzelnd an. Einer spuckte einen Strahl brauen Tabaksaft auf die Straße. Der andere ließ den Blick auf- und abwandern und musterte Levis Kleidung.
»Sie sind aber schon ein merkwürdiger Knilch, oder?«
Levi lächelte. »Sie haben ja keine Ahnung.«
»Hab Sie noch nie in der Stadt gesehen, wenn ich’s mir recht überlege. Wie heißen Sie, Kumpel?«
»Sie können mich Levi Stoltzfus nennen. Und Sie haben recht, ich stamme nicht aus der Gegend. Ich bin auf der Durchreise nach Virginia Beach. Sie sollten froh sein, dass mich die Providenz hierhergeführt hat.«
»Die was? Ist das nicht diese Ortschaft in Rhode Island?«
Der zweite Mann stupste seinen Freund in die Rippen, als ein weiterer, entfernterer Schuss durch die Straßen hallte. »Komm, Marlon. Lass uns nachsehen, was hier abläuft.«
Ohne ein weiteres Wort rannten die beiden los. Levi sah ihnen nach. Als sie sich außer Sichtweite befanden und die Straße wieder verwaist war, zog er eine schmutzige Segeltuchplane von einer langen Holzkiste auf der Ladefläche des Pferdewagens. Er legte die Plane beiseite und wischte sich die Hände an der Hose ab. Die Kiste war mit einem Vorhängeschloss und mächtigen Powwow-Zaubern versehen, um den Inhalt vor Dieben, Hexerei und den Elementen zu schützen. Die Sigillen waren auf das Holz gemalt und teilweise tief in die Oberfläche geritzt. Es handelte sich um heilige Symbole und komplexe Hex-Zeichen sowie Worte der Macht. Levi strich mit den Fingern über die zwei ausgeprägtesten Schnitzereien.
I.
N. I. R.
I.
SANCTUS SPIRITUS
I.
N. I. R.
I.
SATOR
AREPO
TENET
OPERA
ROTAS
Er hatte sie selbst angefertigt, so wie sein Vater es ihn gelehrt hatte. Sorgfältig hatte er die Worte aus Der lange verborgene Freund – dem wichtigsten Zauberbuch des Powwow – abgeschrieben, ebenso Worte, Zauber und Sigillen aus weiteren okkulten Werken, die er besaß und die sich mit anderen magischen Disziplinen befassten. Die meisten der Bücher hatte sein Vater an ihn weitergegeben, doch inzwischen hatte Levi darüber hinaus Zugang zu Werken erlangt, die sein Vater mit einem Stirnrunzeln betrachtet hätte. Wie so oft in Zeiten wie diesen fragte sich Levi, was sein Vater über ihn denken mochte, wenn er von der anderen Seite auf Levi hinabblickte. War er stolz auf seinen Sohn? Hieß er gut, was er tat? Verstand er, dass man manchmal auf die Methoden des Feindes zurückgreifen und lernen musste, wie dieser arbeitete, wenn man ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen wollte? Oder missbilligte sein Vater, so wie der Rest von Levis Volk, selbst im Tod, die Art und Weise, wie Levi seine Talente nutzte?
Natürlich gab es keine Möglichkeit, diese Fragen zu beantworten. Es würde bis zu dem Tag ein Rätsel bleiben, an dem Levi ihn wiedersah. Bis zu dem Tag, an dem der Herr ihn nach Hause rief. Manchmal betete Levi für diesen Augenblick. Er sehnte ihn herbei und fürchtete ihn zugleich. Er fürchtete sich davor, wie die Antwort des Herrn ausfallen mochte, wenn er vor ihm stand, um sein Urteil entgegenzunehmen.
»Dein Wille geschehe«, flüsterte er. »Darum geht
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