Eine Versammlung von Krähen (German Edition)
die Luft feuerten. Normalerweise gab das keinen Anlass zur Sorge. Trish wollte ihr Training bereits fortsetzten, als ihr auffiel, dass die Schüsse von lautem Wehklagen begleitet wurden.
»Was um alles in der Welt ist da los?«
Schwer atmend von der letzten halbe Stunde körperlicher Ertüchtigung watschelte sie zur Eingangstür und spähte aus dem Fenster. Auf den Straßen herrschte Dunkelheit. Sie konnte nichts erkennen. Weitere Schüsse hallten durch die Nacht, gefolgt von entsetztem Geschrei. Trish wollte die Tür öffnen, um nach dem Rechten zu sehen, als sie in ihrem Schlafzimmer Glas zerbrechen hörte. Instinktiv riss sie die Hand an die Brust, und der Atem stockte ihr in der Kehle.
Weiteres Glas klirrte. Es klang, als fielen Scherben zu Boden. Dann spürte sie einen leichten Luftzug durchs Haus wehen. Ein Einbrecher?
Sie griff zum Telefon, wählte die Nummer des Notrufs und hob den Hörer ans Ohr. Stille. Keine Telefonistin aus der Einsatzzentrale. Kein Wählton. Nicht einmal ein Freizeichen. Leise wimmernd legte Trish den Hörer zurück auf die Gabel und schlich sich auf Zehenspitzen zur Küche. Ihr Mobiltelefon lag auf der Arbeitsfläche. Wenn sie es rechtzeitig erreichte …
Gelächter drang aus dem Schlafzimmer – kalt, bösartig und eindeutig männlich. Ihr durch das Training ohnehin erhöhter Puls beschleunigte sich zusätzlich.
Trish hatte eine Pistole im Haus, eine Ruger-Halbautomatik Kaliber 22. Sie hatte sie nach der Trennung von Darryl im Waffenladen in der Chestnut Avenue gekauft, weil es sie nervös machte, nachts allein im Haus zu sein. Trish verwahrte die Waffe in geladenem Zustand. »Ist sinnlos, eine ungeladene Waffe im Haus liegen zu haben«, hatte ihr Vater immer gesagt. Die Pistole lag in der obersten Schublade ihres Nachttischs im Schlafzimmer – gleich neben dem Fenster, durch das sich der Eindringling dem Klang nach Zugang verschafft hatte.
Dort bringt sie mir nichts.
Trish fragte sich, ob es sich bei dem Eindringling um Darryl handeln konnte. Allerdings hielt sie das für unwahrscheinlich. Er schien sich die Scheidung beinahe herbeigesehnt zu haben, weil er jetzt hemmungslos in Kneipen und Bars herumhuren konnte, ohne befürchten zu müssen, dabei erwischt zu werden. Aber wenn er zu viel getrunken hatte, traute sie ihm trotzdem zu, dass er auf so eine bescheuerte Idee kam. Die Empfehlung ihres Anwalts war vielleicht doch nicht so falsch gewesen.
Sie hätte wirklich ein Kontaktverbot durchsetzen sollen.
Trish erreichte das Ende des Wohnzimmers und wollte gerade die Küche betreten, als die Schlafzimmertür am Ende des Flurs mit einem Knall aufschwang, eine schwarz gekleidete Gestalt in den Gang sprang und sofort auf sie zustürmte. Kreischend wich Trish zurück. Sie nahm wahr, dass unmittelbar vor ihrem Haus andere Leute aufschrien. Trish prallte gegen einen Beistelltisch. Die Lampe, die ihr eine Tante zur Hochzeit geschenkt hatte, fiel krachend zu Boden. Dann war die dunkle Gestalt auch schon an ihrer Seite. Der Mann stank nach Tod.
Das Letzte, was Trish auffiel, war die unglaubliche Größe seines Munds. Dunkelheit umfing sie. Sie setzte zu einem weiteren Schrei an, den ihr Angreifer mit einem wilden, gewaltsamen Kuss abwürgte, der sie endgültig erstickte. Ihr wurde bewusst, dass er dabei lachte. Sein Körper zitterte und zuckte an ihrem, als er beide Arme um sie schlang und fest zudrückte.
Trish hörte, wie ihr Rückgrat brach, dann war da nichts mehr.
Mit einer kleinkalibrigen Schrotflinte in den Händen stand Paul Crowley im Garten hinter seinem Haus und stierte mit zusammengekniffenen Augen in die Finsternis. Die Luft fühlte sich frostig an, und Paul zitterte, als der Wind über ihn strich. Er trug eine schmutzige Jeans und ein weites, ausgebleichtes John-Deere-T-Shirt, das mit Senf bekleckert war. Die Flecken waren ganz frisch – Überreste vom Abendessen, das er wieder mal vor dem Fernseher eingenommen hatte, wo er sich auf seinem Lehnsessel eine Naturdokumentation auf PBS angesehen hatte.
Von der liberalen Ausrichtung des Senders hielt Paul wenig, aber er liebte stimmungsvolle Landschaftsaufnahmen und Tiere in freier Wildbahn. Weil er weder Kabel noch Satellit hatte, blieb ihm eigentlich nur PBS. An diesem Abend war es um Krähen gegangen. Paul konnte die verfluchten Viecher nicht leiden. Widerwärtige Kreaturen. Sie übertrugen den West-Nil-Virus und andere Krankheiten. Im Frühling durchwühlten sie seinen Garten und pickten die Samen weg, die er mühsam
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