Eine Versammlung von Krähen (German Edition)
vielleicht Mitglieder der Schwarzen Loge. Es konnte sich sogar um eine der vielen verschiedenen Manifestationen von Nyarlathotep handeln – ein übernatürliches Wesen, das manche Menschen irrtümlich für einen dämonischen Cthulhu-Diener hielten, das jedoch in Wirklichkeit lediglich der Bote Gottes war.
Irgendwie zweifelte Levi, dass eine dieser Theorien zutraf. Menschliche Schützen würden nicht das merkwürdige Gefühl erklären, das ihn vorhin ergriffen hatte. Nein, die Kräfte, die in Brinkley Springs zu Werke gingen, dürften einen übernatürlichen Ursprung besitzen. Und Nyarlathotep war nicht gerade dafür bekannt, bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er sich auf der Erde manifestierte, Menschen zu massakrieren – was hier geschah, wenn die Berichte stimmten, die Levi von den panischen Überlebenden zu hören bekam. Gottes Bote trat zwar fallweise als Mann in Schwarz auf, doch er erschien auch als Wurm, als Kolibri, als Feuersäule, als brennender Busch, als Riesenhand oder Hunderte anderer Formen. Er richtete keinen Schaden an, sondern übermittelte lediglich jenen eine Botschaft, die dazu auserkoren waren, sie zu hören. Danach verschwand er wieder.
Also vergiss die Männer in Schwarz, dachte Levi, als er über den kleinen Friedhof hinter der winzigen Baptistenkirche schlich, die von ihrer Gemeinde schon lange vor dieser Nacht aufgegeben worden war. Zumindest deuteten die verschimmelten, über Türen und Fenster genagelten Spanplatten darauf hin. Konzentrier dich auf die Krähen. Die Leute erwähnen wiederholt, dass sie große schwarze Krähen gesehen hätten. Was sagt mir das?
Er versuchte, sich an alles zu erinnern, was er über Krähen im Zusammenhang mit okkulten Überlieferungen wusste. Wäre er zu Hause gewesen und hätte Zugang zu seiner Bibliothek gehabt, wäre die Aufgabe ein Kinderspiel gewesen. Doch während das Adrenalin durch seinen Körper strömte und er eine Angst verspürte, die durch das kollektive Grauen der Stadt noch verstärkt wurde, musste er sich auf sein Gedächtnis, seinen Instinkt und seine jahrelange Erfahrung verlassen.
Also, was weiß ich?
Als Erstes kam ihm Raven in den Sinn, eine Gottheit der Indianerstämme, die einst die nordwestliche Pazifik-Region besiedelt hatten. Laut den religiösen Überzeugungen der Ureinwohner trat Raven mal als großzügiger Wohltäter, mal als boshafter Gauner in Erscheinung, und man schrieb ihm so gut wie alles zu – von der Erschaffung der Erde bis hin zum Diebstahl der Sonne. Aber da sich Brinkley Springs auf der anderen Seite der USA befand und es zwischen den beiden Gebieten eine Reihe von anderen Stämmen gab, die andere Gottheiten anbeteten, bezweifelte Levi, dass Raven seine Finger im Spiel hatte.
Die Hindu-Gottheit Shani kam ihm in den Sinn. Sie wurde in der Regel als Wesen dargestellt, das sich nicht nur schwarz kleidete, sondern auch ein dunkles Wesen besaß. Außerdem reiste Shani auf dem Rücken einer riesigen Krähe durch die Welt. All das schien zu passen, aber soweit Levi wusste, war Shani ein Gott der Gerechtigkeit, der die Grausamkeiten verabscheut hätte, die sich hier zutrugen. Wen gab es noch? Odin natürlich, mit seinen zwei zahmen Raben Hugin und Munin. Die keltische Mythologie berichtete von Morrigan, der auch unter Namen wie Badb, Fea, Anann, Macha und anderen bekannt war. Eine der Erscheinungsformen der Göttin war die einer Krähe. Die Waliser bezeichneten den König von Britannien als Bran den Gesegneten, dessen Name »Krähe« bedeutete. Kurz überlegte Levi, ob die Bewohner von Brinkley Springs vorwiegend germanischer, irischer oder walisischer Abstammung sein mochten. Wahrscheinlich traf eine dieser Möglichkeiten zu, doch keine davon fühlte sich richtig an.
Krähen tauchten in Ovids Metamorphosen auf, ebenso in der chaldäischen, chinesischen und Hindu-Mythologie, und sie wurden recht häufig im Buddhismus erwähnt, vor allem in der tibetanischen Schule. Eine physische Erscheinungsform von Dharmapala Mahākāla war die Krähe. Ferner hatten die Vögel über den ersten Dalai Lama gewacht und angeblich die Geburt des ersten, des siebten, des achten, des zwölften und des 14. Lama angekündigt. Allerdings war Levi ziemlich sicher, dass er den Dalai Lama als Verdächtigen ausschließen konnte.
Er hielt sich dicht an den Mauern der Kirche im Schatten. Levi war so in Gedanken versunken, dass er den toten Hund erst bemerkte, als er ihn beinahe erreicht hatte. Das arme Tier war auf dem schmiedeeisernen Zaun
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