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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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Anwesenheit einer zum Himmel stinkenden Fabrik oder einer giftigen Gerberei oder einer Betonfabrik fast zu etwas werden, das man sich wünschte oder an das man sich gerührt erinnerte. Tom sah das nicht so.
    »Schön hier, oder?«, sagte sie, um leutselig zu wirken. Sie hatte ihren Anorak ausgezogen und sich wie ein Urlaubsgast um die Taille gebunden. Nach dem Bier fühlte sie sich locker in den Gliedern und zufrieden. »Sind wir schon unten im Osten?«
    Sie waren vor einem weiteren Maklerschaufenster stehen geblieben. Tom beugte sich wieder vor, um die Reihen von Schnappschüssen zu mustern. Von dem Spaziergang war ihr warm geworden, aber jetzt, ohne Jacke, spürte sie eine angenehme sonnige Kühle durch den Seewind.
    Der nächste Conant-Reisebus tauchte an der Ampel der kleinen Kreuzung im Zentrum auf, rot und weiß wie die anderen, die gestern Nacht die japanischen Kauflustigen zu Bean’s gebracht hatten. Alle Fenster waren getönt, und als der Bus abbog und Richtung Route 1 hochächzte, konnte sie nicht sagen, ob die Passagiere Asiaten waren, aber sie nahm es an. Sie erinnerte sich, wie sie gedacht hatte, dass diese Leute etwas wüssten, was sie nicht wisse. Was war das noch gewesen? »Fragst du dich nie, was Leute in Bussen denken, wenn sie aus dem Fenster schauen und dich sehen?«, sagte sie und beobachtete, wie der Bus sich durch seine Gänge zitterte, nach oben auf das blaue Schild eines Fordhändlers zu.
    »Nein«, sagte Tom. Er beäugte immer noch die Fotos der zum Verkauf stehenden Häuser.
    »Ich will immer sagen: ›Hey, was immer ihr gerade über mich denkt, ihr irrt euch. Ich bin genau so fehl am Platz wie ihr.‹« Sie stemmte die Hände in die Hüften und genoss die Situation, zu sprechen, ohne dass jemand zuhörte. Wieder fühlte sie sich isoliert, von nichts aufgehalten – als wäre sie in dieser winzigen Sekunde mit der Bewältigung der Dinge einen neuerlichen Schritt vorangekommen. Das war ein großartiges Gefühl, denn es gab keinen eindeutigen Auslöser dafür, und es würde sicher nicht lange andauern. Aber es war da. Diese belagerte kleine Stadt hatte immerhin etwas Angenehmes gebracht. Allerdings wäre es ein großer Fehler gewesen, wenn sie jetzt versucht hätte, dieses Gefühl festzuhalten. Es war gut zu wissen, dass es überhaupt da war. »Ist es nicht komisch«, sagte sie und wandte sich wieder der Penobscot Bay zu, »gesehen zu werden, aber zu begreifen, dass man falsch gesehen wird. Bedeutet das …« Sie drehte sich nach ihrem Mann um.
    »Bedeutet das was?« Tom war aufgestanden und betrachtete sie, als hätte irgendetwas sie verzaubert. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und suchte behutsam ihre Nähe.
    »Bedeutet das, dass man gar nicht in seinem wirklichen Leben lebt?« Sie schmückte lediglich eine stumme Empfindung aus, wie es verheiratete Menschen so tun.
    »Du nicht«, sagte Tom. »Niemand würde das von dir behaupten.«
    Zu schade, dachte sie, dass der Reisebus nicht vorbeigekommen war, als er gerade seinen Arm um sie gelegt hatte, ein echtes Ehepaar, das einen sommerlichen Spaziergang auf einer sonnigen Straße machte. An diesem Eindruck wäre doch das meiste zutreffend.
    »Ich würde gern mehr in meinem Leben leben«, sagte Tom, als würde ihn der Gedanke traurig stimmen.
    »Na, du versuchst es ja.« Sie tätschelte seine Hand auf ihrer Schulter und roch ihn, warm und etwas verschwitzt. Vertraut. Willkommen.
    »Komm, wir schauen uns an, was der Häusermarkt so zu bieten hat«, sagte er und schaute über ihren Kopf hinweg den Hügel hoch, von dessen Kuppe die Wohnstraßen unter einem alten Baldachin aus Ulmen und Ahorn ausgingen. Die Häuserfronten lagen weiß und stattlich in der Nachmittagssonne.
    Auf dem Weg durch die engen abschüssigen laubbeschatteten Straßen schien Tom plötzlich klare Absichten zu verfolgen. Während er mit langen Vermesserschritten über die zerbrochenen Bürgersteigplatten stapfte, schien er innere Prinzipien zu ordnen, die er nicht erst heute formulierte. Seine Waden, die sie bewunderte, waren straff und gebräunt, aber das Hinken von seiner Verletzung war auffälliger, wenn er die Hände hinter seinem Rücken verschränkte.
    Ihr gefielen die Häuser, die meisten davon waren schöner und besser in Schuss, als sie erwartet hatte – schöner als das hübsche blaue Holzcottage, das Tom und ihr gehörte und in dem sie immer noch wohnte. Die meisten Häuser waren ansprechende Varianten der Greek-Revival-Standardausführung, aber mit grünen

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