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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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Fensterläden und aufgedonnerten, geschwungenen, zwei Stufen höheren Veranden, ab und an mit einem Ausguck auf dem Dach und abfallenden Rasenflächen, auf denen Hickorynussbäume prangten, alte Ahornbäume, üppige Rhododendren und manikürte Buchsbäume. Nicht sehr verschieden von den besseren Vierteln im östlichen Maryland. Sie war glücklich darüber, zu Fuß zu gehen, wo man normalerweise mit dem Auto fahren würde. Das war ihr lieber als anzukommen und wegzufahren, was mittlerweile für Missverständnisse und Reizbarkeit zu sorgen schien. Sie konnte das Da-Sein an einer Reise genießen, wenn alles aufhörte, sich ständig zu bewegen und zu verändern. Sie verspürte weiter kleine Anwandlungen der angenehmen Isolation, wie zuvor in der Innenstadt. Obwohl Isolation es nicht ganz traf, denn Tom war ja da; es war vielmehr ein Alleinsein mit jemandem, den man kannte und liebte. Das war ideal. Das war die Ehe.
    Tom hatte angefangen, vom »Leben durch Vorwegnahme« zu sprechen, von der Lebensweise, sagte er, die einen dazu brachte, auf begangene Fehler zu achten, die nicht nach Fehlern ausgesehen hatten, bevor man sie beging, aber eindeutig welche waren, wenn man sie später im Rückblick betrachtete. Manchmal sogar ganz große Fehler. »Leben durch Vorwegnahme« bedeutete, dass man sich furchtbar anstrengte, spätere Gefühle im Voraus zu empfinden. »Man vermeidet große Katastrophen«, sagte Tom nüchtern. »Das soll man ja lernen. Das bedeutet wahrscheinlich Erwachsenwerden.«
    Er sprach, wie sie begriff, indirekt, aber nicht sehr subtil von Crystal-Wie-hieß-sie-noch-gleich. Zu schade, dachte sie, dass er sich solche Sorgen über all das machte.
    »Aber würde man denn auf diese Weise nicht ein paar Sachen versäumen, die man vielleicht gern täte?« Natürlich argumentierte sie im Interesse von Toms Fick mit Crystal, im Interesse der großen Katastrophen. Nur dass es nicht besonders viel ausmachte. In diesem Augenblick interessierte sie viel mehr, wie diese Straße, Noyes Street, wohl aussehen würde, wenn der Winter sie voll in den Klauen hätte. Alles weiß, ein Schneesturm, der von der Bucht hereinheulte, jegliche Aktivität tiefgefroren, gelähmt. Undenkbar in diesem Spätsommeridyll. Jetzt war die Zeit, in der die Leute Häuser kauften. Später würden sie es bereuen.
    »Aber wenn du an das Leben anderer Leute denkst«, sagte Tom im Gehen, »nimmst du dann nicht immer an, sie würden weniger Fehler machen als du? Andere Leute scheinen immer alles besser im Griff zu haben.«
    »Das ist aber ein seltsamer Gedanke für einen Polizisten. Wird von dir nicht erwartet, in puncto Rechtschaffenheit alles im Griff zu haben?« Das war ein ziemlich albernes Gespräch, dachte sie und spähte die Noyes Street hinunter, in die Richtung, wo sie ihr eigenes Zuhause vermutete, Hunderte von Meilen weiter südlich, wo sie das Gesetz vertrat und die Armen und Vereinsamten verteidigte.
    »Ich war nie ein guter Polizist«, sagte Tom und blieb stehen, um ein kleines Herrenhaus im waschechten Federal Style anzustarren, neben dessen hoher weißer Eingangstür griechische Schmuckurnen standen. Der frisch gemähte Rasen roch süß. Rasenmäherabdrücke waren noch darauf zu erkennen. Ein einsamer männlicher Hausbesitzer stand hinter einem zweigeteilten Fassadenfenster und beobachtete sie. Irgendwo in einer anderen Straße setzte eine Kettensäge ein, brach wieder ab, dann erklangen mehrere Hämmer, die auf Nägel einschlugen, und Männerstimmen auf irgendeinem Dach, die sich lachend unterhielten. Die Vorbereitungen auf den langen Winter waren in vollem Gange.
    »Du warst eben nicht wie all die anderen Polizisten«, sagte Nancy. »Du warst freundlicher. Aber ich nehme nie an, dass andere Leute weniger Fehler machen. Die Kehrseite der Medaille ist bei jedem dunkler als die Vorderseite. Ich akzeptiere beide Seiten.«
    Die Luft roch warm und üppig, als verströmten Holz und Gras und Schieferwände einen süßen ätherischen Faule-Stunden-Dunst. Sie fragte sich, ob Tom sich in seiner mühseligen Art zu einer neuen Enthüllung durchrackerte, einer neuen Crystal oder irgendeinem anderen einzigartigen Ärgernis, das erst seine Pflicht und Schuldigkeit getan hatte, wenn der fast perfekte Nachmittag ruiniert war. Sie hoffte auf etwas Besseres. Obwohl, wenn man einmal so eine Enthüllung mitgemacht hatte, konnte man nicht umhin, wieder etwas Ähnliches zu erwarten. Aber an etwas zu denken hieß noch lange nicht, dass man sich darum scherte.

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