Eine Vielzahl von Sünden
seinen dicken Augenbrauen, als handelte es sich um etwas Ernstes.
Ein Asphaltpfad umrundete die Grasnarbe. Ein Mann in einem silbernen Rollstuhl kam gerade auf den Pfad und ließ einen Kleinbus hinter sich, der weiter oben am Hügel parkte. Geduldig schob er sich voran, während ein kleines Mädchen auf der inneren Wiesenfläche herumtollte. Eine junge Frau – sicher die Mutter – stand neben dem Bus und behielt sie im Auge.
»Woher weißt du das alles?«, sagte Nancy und sah dem Mann zu, der seinen Rollstuhl vorwärts wuchtete.
»Ein Typ vom Künstlerhaus, Mick, stammt aus Bangor. Er hat mir davon erzählt. Er sagte, jetzt wäre der richtige Augenblick, sich hier was zuzulegen. In einem halben Jahr ist alles zu teuer. Das ist sozusagen der letzte Außenposten hier.«
Der Rollstuhlfahrer sah nach einem jungen Mann aus, obwohl er auch aus einiger Entfernung deutlich schwer und unförmig war. Er rollte sich ohne besondere Eile mit den Armen vorwärts, bewegte sich einfach nur aus eigener Kraft im Kreis. Sie hielt das kleine Mädchen und die Frau für seine Familie, die sich in dem leeren, reizlosen Park etwas zu tun suchten, während er trainierte. Auch Touristen, ganz sicher.
»Findest du das schlimm? Dass die Dinge teuer werden?« Sie atmete den starken Fischgeruch ein, der den schlammigen Tiefen des Hafens entströmte. Die Sonne war weitergezogen, deshalb hielt sie die Hand hoch, um ihr Gesicht abzuschirmen. »Du hast doch nichts gegen Fortschritt, oder?«
»Ich mag Übergangszustände«, sagte Tom selbstbewusst. »Dabei entsteht ein Gefühl für Möglichkeiten.«
»Bestimmt haben die Rockefellers und die Fisks das auch so gesehen«, sagte sie und merkte, dass es streitsüchtig klang, was sie gar nicht wollte. »Billig einkaufen, teuer verkaufen, eine hübsche Leiche hinterlassen. So wird das doch hier nicht werden, oder?« Sie lächelte, ansteckend, wie sie hoffte.
»Lass uns ein Stück spazieren gehen.« Tom schob seine Plastikschüssel von sich weg, wie ein Polizist, der Imbissfraß gewohnt war. Als sie Studenten waren, hatte er nicht so gegessen. Vor Jahren hatte er angenehme Tischmanieren gehabt, ohne Eile gegessen und es genossen. Das war der Einfluss seiner irischen Mutter gewesen. Jetzt war er hektisch, abgelenkt, und seine Mutter war tot. Obwohl diese Gewohnheit ebenso seinem Wesen entsprach wie die andere. Nicht, dass er gewirkt hätte, als wäre er nicht er selbst. Im Gegenteil.
»Spazieren gehen, das klingt gut«, sagte sie, froh aufzubrechen, und warf einen langen Abschiedsblick auf den Hafen und den Park mit dem Rollstuhlfahrer, der langsam seine Kreise zog. »Man macht doch eine Reise, um etwas zu finden, stimmt’s?« Sie schaute sich nach Tom um, doch der hatte sich schon zur Kasse aufgemacht, und sie sah nur noch seinen fortstrebenden Rücken. »Stimmt.« Sie beantwortete ihre eigene Frage und folgte ihm.
Sie liefen durch den Septembernachmittag auf den Straßen von Belfast – die ziegelgepflasterte Steigung vom Fischrestaurant hoch, durch die ordentliche Bürogegend, vorbei an einem Haushaltswarenladen, einem geschlossenen Kino, einer Kreditgenossenschaft und einer Bank, einer Motorradfahrer-Bar, ein paar älteren Immobilienmaklern, mehreren Anwaltskanzleien und einem Friseurladen mit nur einem Kundenstuhl, dessen Schaufenster voller Fotos von High-School-Jungs früherer Jahre hing. Ein schlaksiger junger Mann mit Pferdeschwanz und seine Hippie-Freundin hievten große Pappkartons aus einem verbeulten Lieferwagen in einen der Läden mit den großen Schaufensterscheiben. Da entstand etwas Neues. Nebenan war aus einem Schuhgeschäft eine Bio-Bäckerei geworden, deren Schild ein großer, echt aussehender Brotlaib war. Daneben lag eine Kunstgalerie. Gar nicht unangenehm, diese Stadt, wie sie ganz geduldig auf etwas wartete, das sicher bald kommen würde. Sie verstand schon, was Tom daran gefiel.
Von weiter oben auf dem Stadthügel konnte man mehr vom unten liegenden Hafen erkennen, außerdem die Mündung einer weiteren Bucht, die sich mit ihren tiefgrün bewaldeten Abhängen in die Penobscot Bay schlängelte. Eine hohe Stahlbrücke, echt alt aus den Dreißigern, überquerte den Fluss, wie die Brücke in Wiscasset, allerdings war hier alles kleiner, weniger aufstrebend, weniger pittoresk – die große Bucht lag blau und weit und reglos da, nur ein weiterer Park, steril, fischlos, bereit für profitable Alternativnutzungen. So, fand Nancy, war es irgendwie mit allem. Da konnte die
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