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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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gesagt. Er war ein Einwanderer. Seiner Meinung nach war der Grand Canyon etwas Absolutes: Er stand für alles, was wichtig war an Amerika. Ich denke, diese Bedeutung hat er für mich auch.«
    »›In einer Hinsicht ist es ein großes Loch in der Erde, das die Erosion gebildet hat.‹« Er las laut aus dem Klappentext ihres Grand-Canyon-Buches vor. Vor ihnen saß der nächste große grauweiße Eselhase vornübergebeugt am Fahrbahnrand, Autos peitschten an ihm vorbei. Howard starrte ihn an. Der Hase schien jeden Moment losstürzen zu wollen, wartete aber auf das, was sich in seinem geschäftigen Hasenhirn als der richtige Moment anfühlte. Auf der gegenüberliegenden Spur donnerten große Sattelschlepper in der Dämmerung südwärts Richtung Phoenix. Dieser Hase hat Probleme, dachte Howard. Menschengemachte Hürden überwinden. Unnatürlichen Gefahren ausweichen. Giftigen Müll am Straßenrand meiden. »Achtung, der Hase«, sagte er und versuchte, nicht besorgt zu klingen. Und noch ein Schluck von seinem warmen Gin.
    »Roger. Der ist ein Replikant, Houston«, sagte Frances. Sie hatte den Rand ihres weißen Styroporbechers zwischen zwei Fingern eingeklemmt und ließ den Becher unter der oberen Sprosse des Steuerrads baumeln. Sie machte keinerlei Anstalten, auf Abstand zu dem Häschen zu gehen, das da am Straßenrand hockte. Sie war betrunken.
    Und genau als der Town Car beinahe auf gleicher Höhe mit dem großen Hasen war, in dem kritischen Sekundenbruchteil, nach dem er verschont geblieben wäre und es vielleicht über die vier Fahrspuren geschafft hätte, um eine weitere Nacht auf dem Mittelstreifen zu schlummern, in diesem Sekundenbruchteil stürmte der Hase los, direkt ins Scheinwerferlicht des Wagens, ohne einen Blick nach rechts oder, besser noch, links. Und wumms ! Der Lincoln raste drüber, rammte die höchste Stelle des Hasen, was immer das war, und schleuderte ihn blindwütig über den Highway.
    »Autsch! Verflucht! O Scheiße. Nummer zwei … Sschulligung, kleiner Wupser«, sagte sie. »Die Härte, voll die Härte.«
    »Wieso hast du denn nicht die Scheiß-Spur gewechselt?«, sagte Howard.
    »Ich weiß.« Frances hatte nicht mal in den Rückspiegel geschaut. »Das hab ich jetzt auf mein Karma geladen. Dafür werde ich bezahlen.«
    »Wirklich lächerlich ist das.« Er stierte sie an, dann nach draußen, in das dunkel werdende Wüstengestrüpp. Total lächerlich, dachte er.
    »Ich werd mich jetzt zusammenreißen.«
    »Na, dem Hasen nützt das nichts mehr.«
    »Stimmt. Diesem Mister Bunnyhäschen nicht«, sagte Frances. »Der ist hinüber.«
    Er wünschte sich ins Radisson zurück, zu einem Glas Pinot Grigio statt des billigen warmen Gins, den er nicht mal mochte. Er könnte sich jetzt über das glimmende Bernsteinmuster des nächtlichen Phoenix freuen und sich für einen Anruf bei Mary bereitmachen.
    »Glaubst du, dir fällt irgendein Grund für bessere Laune ein?« Sie sah ihn an und lächelte ein Lächeln, das die Kanten ihres Gesichts übertrieben wirken ließ. »Versuch dir doch einen Grund auszudenken.«
    Sie war ekelhaft, dachte er. Einen Hasen platt machen, das war wahrscheinlich erst der Anfang. Genau so verkaufte sie bestimmt ihre Häuser: wie eine Dampfwalze; niemals nachlassen, nichts anderes im Blick als den Abschluss; den Käufer mit Anrufen vom Autotelefon wahnsinnig machen; jedes Wochenende arbeiten.
    »Leg mal neue Musik auf, ja, Mister Schlechte Laune?«, sagte Frances. Die kranke Bongo-Musik hatte seit einigen Meilen aufgehört, Frieden war im Auto eingekehrt. »Leg die Rolling Stones auf«, sagte sie. »Magst du die? Ich mag die.«
    »Egal«, sagte er, fingerte sich durch ihren Kassettenstapel, den sie auf dem Ledersitz zwischen ihnen untergebracht hatte. Er versuchte, sich irgendein Lied von den Stones ins Gedächtnis zu rufen, ihm fiel aber keins ein. Er hatte mittlerweile eindeutig zu viel getrunken.
    »Leg mal Let it Bleed auf, zu Ehren des tapferen Hasen, der sein Leben geopfert hat, damit wir den Grand Canyon sehen und Ehebruch begehen können.« Sie sah ihn nicht mal an.
    Das Ganze war verkackt, merkte er. Ganz plötzlich wirkte sie wie ein anderer Mensch. Am besten suchten sie jetzt den Busbahnhof in Flagstaff, und dann würde er sie betrunken in die Nacht hinausfahren lassen und nie wiedersehen. Ein kluger Mann würde das tun.
    »Das war ein Witz mit Let It Bleed. « Sie schniefte. »Es ist nicht dabei. Leg noch ein bisschen Chiquita-Banana-Musik auf und schenk uns von dem Gin nach.

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