Eine Vielzahl von Sünden
Tipi weggefegt werden mussten. »Oje«, sagte sie. »Guck mal da.«
»Was dachtest du denn, wer ich war?«, sagte er und rutschte vom Kotflügel herunter.
»Ich wusste es nicht«, sagte sie und betrachtete die Kakerlaken zu ihren Füßen. »Du warst nicht mal irgendjemand. Du hättest ein Tier sein können. In veränderter Gestalt.«
»Dachtest du, ich wäre Ed?«
»Nein.« Sie griff in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel und stupste mit der Spitze ihres rosa Schuhs nach den Kakerlaken. »Keine Ähnlichkeit vorhanden.«
»Weiß ich ja nicht.«
»Nein, woher auch.« Sie wirkte jetzt verärgert und kam auf das Auto zu. »Komm jetzt«, sagte sie. »Wir sind spät dran.«
Eine Meile vom Motel entfernt stand auf einem grünen Verkehrsschild SÜDRAND – 85 MEILEN . Dorthin bogen sie ab, und Howard legte die Tito-Puente-Musik auf, dann fiel ihm ein, was es war, und er stellte sie wieder ab, gerade als der Highway anstieg, und sie trafen auf eine lange Reihe von Wohnmobilen und Reisebussen, die nach oben krochen und herunterkamen. Die Landschaft, allmählich unter ihnen, wirkte flacher und glatt und rosig wie eine Sandskulptur. Sie sah jetzt – fand Howard – überhaupt nicht mehr so gespenstisch und abweisend aus wie vorher, als er in ihr gestanden hatte. Und gedacht hatte, das sei die Hölle.
Frances zog einen Fotoapparat hervor, so ein neues glattes, modelliertes Gerät, von den Japanern entworfen, um seriös und professionell auszusehen, obwohl es eigentlich billig war. Dreimal hielt sie auf der steil ansteigenden Straße an, damit sie Fotos von der Wüste machen konnte. Zweimal musste er sie knipsen, wie sie kurzhälsig, steif und blinzelnd vor einer Stützmauer aus Feldstein stand. Einmal nahm sie ihn auf, und einmal ließ sie einen Mann aus Michigan ein Foto von ihnen beiden machen, vor dem kühlen leeren Himmel. »Die kann man vor dem Scheidungsrichter verwenden«, sagte Frances, den Mann aus Michigan immer noch in Hörweite. »Ich gebe dir die Negative, und du kannst sie zerstören. Ich möchte nur einen Abzug.«
Howard dachte gerade, wie wenig er Touristenorten abgewinnen konnte, an denen man nie etwas zu sehen bekam, das nicht auch zehn Millionen anderer Dödel angeguckt und vollgeschissen und mit Graffiti beschmiert hatten, bevor man selber hinkam. Was sie jetzt machten, hatte wirklich überhaupt keinen Sinn und Zweck. Sinn und Zweck hatten sich gestern Nacht erfüllt. Und jetzt machten sie das einfach nur.
Frances stand neben dem Auto und untersuchte ihre Kamera, sie versuchte, sie auf Automatik umzustellen, schaffte es aber nicht. Der Apparat gab seine leisen, Vertrauen erweckenden Surr-, Klick- und Seufzgeräusche von sich. »Wieder ein klarer Fall von Händchen«, sagte sie.
»Ich glaube nicht, dass ich den Grand Canyon kapieren werde«, sagte Howard. Jetzt war sie wieder anders geworden, geschäftsmäßig. Jede Stunde war sie anders. Für Frances brauchte man ein Programm.
»Du hast’s noch nicht erlebt«, sagte sie, hielt ihre Kamera hoch, richtete sie rückwärts auf die Stützmauer und die perfekt blaue Glanzlosigkeit des leeren Raums. Wieder Surren, Klicken, Seufzen. »Das muss man glauben, damit man es sieht. Natürlich hab ich ihn auch noch nicht gesehen. Nur auf Fotos.«
»Ich nix wissen«, sagte er, aber Japanisch klang das nicht. Eher Indianisch und ziemlich dusslig.
Sie lächelte gequält, drehte die Kamera um und las etwas, das unten draufstand. »Nun, das wirst du noch.« Sie schüttelte den Kopf, steckte den Apparat in ihre Handtasche und umrundete das Auto. »Dann wirst du diese Bilder haben wollen. Du wirst mir Geld dafür anbieten. Du wirst einer Erfahrung ausgesetzt worden sein, die deinesgleichen weder gesehen noch erwartet hätte. Und du wirst dich bei mir bedanken, auf der ganzen Rückfahrt nach Phoenix.«
Es gefiel ihr sehr, dass die Luft kühler wurde und sich die Vegetation veränderte, dass da kleine Kiefern direkt aus der trockenen, felsigen Bergerde wuchsen – so interessant anders als an der Ostküste. Es gefiel ihr sehr, dass der schrundige Wüstenboden von hoch oben einem Sandgemälde ähnelte, wie es von einem Indianer stammen könnte – Rot- und Pink- und Blau- und Schwarztöne in Schichten, die man nie erkennen würde, solange man mittendrin wäre. Solche Erkenntnisse hielt das Draußensein also bereit, dachte sie: was wirklich existierte, verborgen in den Dingen, die man sah; und außerdem, dass man sich besser nicht allzu vieler Dinge allzu sicher
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