Eine Vielzahl von Sünden
Südrand des Grand Canyon lebten – Lebensmittel einkauften, zum Zahnarzt gingen, Fernsehen schauten, Fahrgemeinschaften bildeten … alles hier! Vielleicht käme es einem nach einem Monat wie Connecticut vor, aber so ganz sah sie das nicht.
»Kannst du dir vorstellen, je mit mir verheiratet zu sein?« Howard warf ihr einen seltsamen Blick zu.
»Ich glaube nicht.« Sie kämpfte sich zentimeterweise voran und behielt den Verkehr im Blick. »Das hat mit der Tatsache zu tun, dass ich schon verheiratet bin. Und du auch. Und zwar mit anderen Leuten.«
»Also unverbindlicher Sex. Einmal drüber und weg.« Er passte gar nicht auf. Quatschte bloß. Gelangweilt.
»Eher wie Etch-a-Sketch. Schnell hingekritzelt und schnell wieder gelöscht. Verstehst du?« Sie starrte das Nummernschild des Explorer vor ihnen an. Maine. Schatz der Natur. Was gab es denn da?
»Und hast du deshalb Schuldgefühle?«
»Meine Gefühle …« Sie brach ab. Egal was sie gerade hatte sagen wollen, es konnte ihren ersten Blick auf den Grand Canyon schon beeinträchtigen, einfach weil er irgendwas Hirnloses darauf antworten würde. Zum ersten Mal war gerade so etwas wie Ruhe eingekehrt, und sie hatte nicht vor, sich das durch idiotisches Gelaber vermasseln zu lassen. Warum war jetzt nicht Meredith da, ihre Mitbewohnerin vom Junior College, die an Gehirntumor gestorben war, statt dieses Typen hier? Meredith hätte das gefallen. »Ich schlage eine Runde Funkstille vor, okay?« Sie lächelte ihn unwirtlich an. »Ich möchte mir, weißt du, den Grand Canyon anschauen. No más preguntas esta mañana .«
»Das klappt bestimmt. Egal«, sagte Howard, griff nach unten, wo er seinen Schuh ausgezogen hatte, und zupfte an dem hoch stehenden Nagel seines großen Zehs herum, als wollte er ihn abreißen.
Vielleicht brachte sie sich ja in Gefahr, wenn sie mit diesem Mann zusammen war. Vielleicht stellte er eine Bedrohung dar, wie er so seinen riesigen Zehennagel anglotzte. Was dachte er wohl? Irgendetwas Finsteres. Sie würde sich auf die Toilette zurückziehen, sobald sie aus dem Auto gestiegen waren, und sich dann aus dem Staub machen. Die Polizei anrufen und sagen, er würde sie belästigen. Sollte er sich doch alleine nach Phoenix zurückwurschteln, dieser Jammerlappen. Sie dachte an den schmerzlichen Gesichtsausdruck seiner Frau, den sie vorgestern am nächtlichen Himmel von Phoenix gesehen hatte wie eine Erscheinung. Die konnte ihn gerne zurückhaben.
»Hast du es lieber kompliziert oder einfach?«, sagte Howard, der immer noch an seinem Zehennagel herumfummelte.
»Einfach«, sagte sie.
»Hm. Dacht ich mir’s doch«, sagte er träge. »Ich auch.«
»Das ist mir nicht entgangen.«
»Stimmt«, sagte er, richtete sich auf und starrte auf den Verkehr. »Genau.«
Mit der Einfahrt ins South Rim Village kam man auch in den Nationalpark. Autofahrer mussten der ausgeschilderten asphaltierten Route folgen, die man nicht verlassen durfte und die sich als Einbahnstraße durch hübsche Kiefernwälder schlängelte. Bald staute sich der Verkehr. Aber alle Fahrer waren geduldig, hupten nicht oder versuchten zu wenden. Nur so waren die Massen zu bewältigen: in geordnetem Fluss, Einfahrt/Ausfahrt, organisiertes Parken, bleiben Sie in Ihrem Fahrzeug. Sonst würden die Leute direkt an den Canyonrand fahren, aussteigen und ihre Autos stundenlang da stehen lassen wie vorm Kaufhaus. In ihrer Vorstellung hatte es keinen Verkehr gegeben, sie war auf einem Palomino-Pferd herangeritten, hatte am Rand innegehalten und stundenlang geschaut, allein mit ihren Gedanken.
»Alles dreht sich nur darum, die Leute durchzuschleusen«, sagte Howard. Er hatte seinen Sitz nach vorn geschoben und die Knie zum Kinn hochgezogen und beobachtete gebannt den Verkehr. »Was wir, du oder ich, sehen oder tun, ist belanglos. Die Leute müssen weiterbewegt werden, sonst bricht das System zusammen.« Er kratzte mit der Hand über sein Borstenhaar und zog sich am Ohr. »Genau wie bei Immobilien. Die Leute ziehen irgendwohin, und wir finden ein Haus für sie. Dann ziehen sie woandershin, und wir finden ein anderes Haus für sie. Es ist unwichtig, wo sie letzten Endes sind – und das weicht natürlich schon von dem ab, was wir in der Schule gelernt haben. Wir sollen daran glauben, dass es durchaus wichtig sei, wo wir sind. Aber wir leben wie die Haie. Ständig unterwegs.« Er nickte zu seinem eigenen Konzept.
»Ich glaube, sie kommen aus guten Gründen her«, sagte Frances. Die Wohnmobile und
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