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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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setzte mich auf die mittlere Ruderbank. Doch als Renard ins Heck huschte, schaukelte das Boot heftig auf eine Seite, gerade als mein Vater einen langen, ununterbrochenen Schluck aus der Halbliterflasche nahm, die er verstohlen zwischen seinen Füßen untergebracht hatte.
    »Fall mir bloß nicht rein, Baby«, sagte Renard vom Heck des Bootes zu meinem Vater, während er schwungvoll an der Startleine zog. Er hatte eine tiefe, volle Stimme, mit einem Hauch Sarkasmus. »Ich glaube kaum, dass dich einer rauszieht.«
    Mein Vater, denke ich, hörte ihn nicht. Aber ich, ich hörte ihn. Und ich fand, er hatte Recht, gar keine Frage.
    Ich kann nicht mehr sagen, wie wir an jenem Morgen mit Renard Juniors Boot gefahren sind, nur dass wir in das dunkle sumpfige Gebiet gelangten, das der Grand Lake ist und das in Plaquemines Parish liegt und wie das Ende der Welt aussieht. Später, als die Sonne aufging und sich der Nebel auflöste, sah ich eine große Oberfläche aus graubraunem Wasser, durchbrochen von flachen Inseln aus gelbem Spartgras, wo es nach Teer und vermodernder Vegetation roch, wo der Schlamm blauschwarz und klebrig war und widerlich stank. Während am Horizont, beleuchtet vom Morgenlicht, einzelne Gebäude der Stadt standen – die Hibernia Bank mit dem ehemaligen Büro meines Vaters –, ganz knapp über die Krümmung der Erde gestupst. Es war seltsam, sich so außerhalb der Zivilisation zu fühlen und sie doch so deutlich zu sehen.
    Natürlich war es anfangs noch dunkel. Renard Junior konnte, da er klein war, am hinteren Ende des Bootes, das wenig Tiefgang hatte, aufrecht stehen und das Licht seiner Lampe über mich in der Mitte und meinen im Bug kauernden Vater hinwegstrahlen lassen. Das blonde Haar meines Vaters leuchtete hell und wurde ihm von der Brise aus dem Gesicht geweht. Wir fuhren ein Stück das Bayou hinunter und bogen dann ab, langsam unter einer Holzbrücke durch und schließlich hinaus über einen breiten Kanal mit sumpfigen Hügeln an den Ufern, wo weiße Reiher brüteten und die ersten der Enten, die wir doch schießen wollten, im Licht vom Boot wegschwammen, plötzlich aus dem Dunkel auftauchten und wieder verschwanden. Mein Vater zeigte auf diese verblüfften Enten, machte eine Waffe aus seinen Fingern und feuerte eins-zwei-drei stumme Schüsse auf sie ab, während das Boot weiter durch die Sümpfe rauschte.
    Natürlich war ich begeistert, dort zu sein – selbst in meiner verhassten Militärschulkleidung, mit meinem betrunkenen Vater im Frack und dem kleinen Affen Renard am Steuer unseres Bootes. Ich war trotz allem davon überzeugt, dass dies eine Variante der echten Sache darstellte – Enten jagen mit dem eigenen Vater und einem Führer –, selbst wenn es auch unter den allerbesten Umständen in irgendeiner Hinsicht unvollkommen sein würde, ein Erlebnis mit gemischten Gefühlen. Der Kniff bestand darin, sich an diese Unvollkommenheit zu gewöhnen, weil man sonst auch noch das bisschen Glück verpasste, das trotz allem möglich war.
    Und irgendwann, während wir über die dunkle, schlüpfrige Oberfläche des Sees brummten, rückte Renard Junior plötzlich vom Motor ab, schaltete seine Lampe aus, drehte den Motor scharf nach links und nutzte den Schwung, um uns direkt auf eine der Grasinseln tragen zu lassen, die ich zuvor nicht bemerkt hatte. Wobei ich sofort erkannte, dass es nicht bloß eine Insel war, sondern auch ein Erdsitz mit grasgetarnter Vorderseite, der aus in den Schlamm gerammten Holzpfählen bestand, mit einigen Obstkisten drinnen, auf die sich die Jäger setzen konnten, ohne von den einfallenden Enten gesehen zu werden. Während sich das Boot langsam in den Schilfgürtel am Ufer hineinbohrte, sprang Renard, jetzt in einer Wathose, hinaus, um uns weiter hoch auf den festeren Schlamm zu manövrieren. »Hier draußen ist der Entenhimmel«, sagte mein Vater, dann hustete er zäh, sein glattes Jungmannsgesicht zerfiel unter heftigem Keuchen, so dass er sich kopfschüttelnd abwenden musste.
    »Er meint, hier ist der Ort, wo die Enten in den Himmel kommen«, sagte Renard. Das war das Erste, was er überhaupt zu mir sagte, und jetzt fiel mir auf, wie wenig seine Stimme nach einem Yat klang, was sich doch angeblich wie ein New Yorker oder Bostoner Akzent anhören soll. Renards Stimme war kultiviert und weich und melodiös, als wäre er ein distinguierter Bestattungsunternehmer oder Florist. Diese Stimme hätte irgendwie besser zu einem anderen Körper gepasst als zu dem muskulösen

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