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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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Vater nur tat, was ihm gefiel, im Glauben, das würde anderen dieselbe Freiheit eröffnen, zu tun, was ihnen gefiel. Bloß läuft die Welt nicht so, das Leben meiner Mutter und meins waren der leibhaftige Beweis dafür. Man kann sich von den anderen nicht frei machen. Viel komplizierter ist es eigentlich nicht.
    Mein Vater saß zusammengesackt im Bug des leeren Bootes am Ende des Holzstegs. Es war die Stunde vor Sonnenaufgang. Er starrte auf die stille, fast reglose Oberfläche des Bayou Baptiste, hinter dem sich (obwohl ich es nicht sehen konnte) ödes Sumpfland meilenweit bis hin zum Mississippi im Westen erstreckte. Mein Vater trug keine Mütze, hatte aber eine Art gelbbraunen Regenmantel an. Ich hatte ihn seit einem Jahr nicht gesehen.
    Der Ort, an dem wir uns befanden, hieß Reggio Dock und war nur eine behelfsmäßige kleine Anlegestelle, von der aus im Sommer Angler mit ihren gemieteten Booten ausliefen und Entenjäger wie wir übers Bayou in die Sümpfe aufbrachen. Wenn die Saison vorüber war, brachten auch einige Shrimpfischer ihre großen Boote und Netze hier unter. Ich war noch nie in Reggio gewesen, wusste aber davon, durch Jungen von der Jesuit High School, die mit ihren Vätern hergekommen waren; die Väter hatten Teile des Sumpfes vermietet und Erdsitze aus Holz gebaut und wohnten an der einspurigen Straße Richtung Violet, Louisiana, in wackligen Hütten und Häusern auf Stelzen. Für mich war der Ort berüchtigt, denn jedes Jagdlager hat etwas Berüchtigt-Mysteriöses und Gefährliches an sich und kann für das Gute und das Unbekannte stehen, die im Leben so selten Hand in Hand auftreten.
    Mein Vater war nicht gekommen, um mich abzuholen, wie er versprochen hatte. Stattdessen hielt ein gelbes Taxi mit einer Lampe obendrauf vor unserem Haus, ein Fahrer kam zur Tür und klingelte und teilte mir mit, Mr McKendall schicke ihn, er solle mich nach Reggio bringen – das im St. Bernard Parish und, so wild es auch war, eigentlich gar nicht weit vom Garden District entfernt lag.
    »Und das bist wirklich du?«, sagte mein Vater vom Boot aus, als er sich schließlich umdrehte. Ich hatte eine Minute lang am Ende des Stegs gestanden und darauf gewartet, dass er mich bemerkte. Ein kleiner, verwachsen aussehender Mann im Overall, mit einem großen eckigen Kopf und gewelltem schwarzem Haar, schleppte Leinensäcke voller Lockenten zum Boot hinunter. Rund um den Lagerplatz bei der Anlegestelle war etwas los. Autos tauchten mit heller werdenden Scheinwerfern aus dem Dunkel auf. Lachende Männerstimmen waren zu hören. Jemand hatte einen Hund mitgebracht, der bellte. Und es war nicht kalt, obwohl Weihnachten vor der Tür stand. Die Morgenluft fühlte sich schwer und samtig an, der Nebel hatte sich über dem Bayou gelichtet, das roch, als wäre dort Öl oder Benzin abgelassen worden. Der Dunst klebte mir an Händen und Gesicht, und die Haare unter meiner Mütze fühlten sich schmutzig an. »Tut mir Leid mit dem Taxi«, sagte mein Vater vom Bug des Aluminiumbootes aus. Er hatte ein übertriebenes Lächeln aufgesetzt. Seine Zähne waren blendend weiß, aber er sah schmal aus. Sein blasses dünnes Haar war kürzer geschnitten und kam mir gelber vor, als ich es in Erinnerung hatte, der Seitenscheitel war breiter. Komisch, aber ich weiß noch, wie ich dachte, so hätte wohl sein älterer Bruder ausgesehen, wenn er einen gehabt hätte. Nicht gut. Nicht glücklich oder gesund. Und natürlich merkte ich, dass er trank, selbst um diese Uhrzeit. Der Mann im Overall brachte drei Schrotflintenkoffer herunter und legte sie ins Boot. »Dieser kleine Yat -Halunke hier ist Mr Rey-nard Theriot Junior«, sagte mein Vater und zeigte auf den kleinen Mann mit den gewellten Haaren. »In New Orleans kennt man ihn auch als Fabrice den Fuchs. Oder Fabri-tschi. Such’s dir aus.«
    Ich wusste nicht, was all das zu bedeuten hatte. Aber Renard Junior hielt inne, nachdem er die Waffen ins Boot gelegt hatte, und warf meinem Vater einen unfreundlichen Blick zu. Er hatte eine schwere, zerknitterte Stirn, und selbst bei dem schwachen Tageslicht wirkten seine Augen durch die dunkle Tönung der Haut klein und durchdringend. Unter seinem Overall trug er ein rotes Hemd mit kleinen goldenen Sternen darauf.
    »Fabri-tschi imitiert den Entenruf mit überraschender Feinfühligkeit«, sagte mein Vater etwas zu laut. »Neben seinen anderen Talenten natürlich. Nicht wahr, Mr Fabrice? Haben Sie schon meinen Sohn Buck begrüßt, meinen prächtigen Jungen?« Mein

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