Eine Vielzahl von Sünden
Haustiere gab, meistens Katzen. Hiroki ist weg. Wir sind untröstlich. Kann jemand helfen? Tel. Jamie oder Hiram … Oder: Wir vermissen unser Pfötchen. Bitte rufen Sie uns an oder geben Sie ihm ein gutes Zuhause. Bitte! Auf meiner Runde blieb ich immer wieder stehen und las die anderen Zettel, um zu schauen, ob irgendwer einen verlorenen Welpen suchte. Aber zu meiner Überraschung tat das niemand.
Vor einem kurzen zwielichtigen Häuserblock gegenüber vom French Market, mit halbseidener Geschäftszeile (Sexshops, T-Shirt-Märkte und Pizza-zum-Mitnehmen), entdeckte ich eine Gruppe der jungen Leute, die Sallie beschuldigt hatte, unseren Welpen ausgesetzt zu haben. Sie saßen, genau wie sie es in Erinnerung hatte, im Eingang eines leeren Ladens, gekleidet in schwere, zerrissene schwarze Kluft und Stiefel mit dicken Sohlen, dazu diverse Ketten und nietenbesetzte Armbänder, und allesamt – zwei Jungen und zwei Mädchen – waren sie gepierct und tätowiert, Malteserkreuze, triefende Klingen und Hakenkreuze, allesamt schmutzig und abgestumpft, dabei aber sehr schlecht gelaunt und offenbar gewaltbereit. Diese jungen Leute hatten einen kleinen schwarzen Hund, der mit einer weißen Baumwollkordel an einem der schweren Stiefel eines Jungen festgebunden war. Sie tranken Bier und rauchten, saßen ansonsten aber einfach so da, redeten nicht einmal, starrten bloß böse auf die Straße oder auf nichts Besonderes.
Ich hatte das Gefühl, hier sei wenig zu befürchten, deshalb blieb ich vor ihnen stehen und fragte, ob sie oder jemand, den sie kannten, gestern einen weißen Welpen mit einfachem schwarzem Muster verloren hätte, weil ich einen gefunden hätte. Der eine Junge, anscheinend der Älteste, groß und unrasiert mit grell gefärbten lila und grünen Haaren im Flattop-Schnitt – er war derjenige, an dessen Stiefel die Hundekordel hing –, der Junge schaute zu mir hoch, ohne sofort deutbaren Gesichtsausdruck. Dann wandte er sich einem der unglaublich schmutzig aussehenden, fleischigen, blasshäutigen Mädchen zu, das weiter hinten auf der schmierigen Türschwelle hockte und rauchte (dieses Mädchen hatte ein grobes Kreuz auf ihre Stirn tätowiert, so wie angeblich auch Charles Manson), und fragte: »Hast du einen kleinen weißen Welpen mit einfachem schwarzem Muster verloren, Samantha? Ich glaube kaum. Oder doch? Ich kann mich nicht erinnern, dass du heute einen gehabt hättest.« Der Junge hatte einen unerwartet jugendlich klingenden nasalen Akzent aus dem Mittleren Westen, so wie ich ihn in St. Louis in jener Woche zu hören gekriegt hatte, allerdings von hochpreisigen Anwälten. Ich weiß wenig genug über junge Leute, aber mir kam der Gedanke, dass dieser Junge womöglich der Sohn eines jener Anwälte war, jemand, dessen Bild man auf einer Milchtüte oder einer Website findet, unter der Rubrik »Vermisste Kinder«.
»Ah, nein«, sagte das Mädchen und spuckte dann plötzlich ein Lachen hervor.
Der große lilahaarige Junge schaute zu mir hoch und lächelte bloß verächtlich. Seine Augen waren von stählernstem Dunkelblau, undurchdringlich und intelligent.
»Was sitzt du hier herum?«, wollte ich ihn fragen. »Ich weiß genau, dass du deinen Hund in meinem Garten ausgesetzt hast. Du solltest ihn zurücknehmen. Ihr solltet alle jetzt nach Hause gehen.«
»Es tut mir Leid, Sir«, der Junge machte sich über mich lustig, »aber ich glaube, wir können Ihnen wohl nicht bei Ihrer wichtigen Suche behilflich sein.« Er zog eine Grimasse für seine drei Freunde.
Ich wandte mich zum Gehen. Dann hielt ich inne und gab ihm einen Zettel und sagte: »Falls du noch von einem Welpen hören solltest, der irgendwo vermisst wird.«
Er sagte etwas, als er den Zettel nahm. Ich weiß aber nicht, was, auch nicht, was er mit dem Zettel machte, als ich weg war, denn ich drehte mich nicht um.
An dem Abend kam Sallie erschöpft nach Hause. Wir saßen am Esstisch und tranken ein Glas Wein. Ich erzählte ihr, ich hätte überall in der Gegend meine Zettel ausgehängt, und sie sagte, sie hätte einen gesehen, alles bestens. Dann weinte sie eine Zeit lang still, weil sie am selben Nachmittag im Aids-Hospiz verstörende Dinge erlebt hatte, und wegen einiger Reaktionen – typisch New Orleans, fand sie –, die aus der Runde der Marathon-Organisatoren gekommen waren, gefühllos, ein Fall von richtigem Tun aus falschen Gründen, was die Welt – jedenfalls in ihren Augen – nach einem bösen Ort aussehen ließ. Manchmal habe ich gedacht,
Weitere Kostenlose Bücher