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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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vielleicht wäre sie glücklicher gewesen, wenn wir uns für Kinder entschieden hätten oder, falls daraus nichts geworden wäre, uns woanders als in New Orleans niedergelassen hätten, wo es weniger provinziell und klüngelhaft zuging, in einer Stadt wie St. Louis, im weiten Mittleren Westen – wo man sich nicht so persönlich engagieren muss und trotzdem nützlich sein kann. New Orleans ist in vielerlei Hinsicht eine Kleinstadt. Und wir stammen nicht von hier.
    Ich erwähnte nicht, was der Welpe mit dem Liguster angestellt hatte, und auch nicht die Jugendlichen, denen ich beim French Market gegenübergestanden hatte, oder dass Sallies Beschreibung von ihnen absolut korrekt gewesen war. Stattdessen redete ich von meiner Arbeit an der Brownlow-Maisonette-Berufung, als was für gute Kollegen sich die ganzen Anwälte aus St. Louis entpuppt hatten, wie freundlich sie mich in ihren unaufdringlichen, unauffälligen Büros willkommen geheißen hatten und welche entscheidenden Früchte diese Beziehungen noch bei unserer Einlassung vor dem 8. Berufungsgericht tragen würden. Ich sprach eine Zeit lang von der Definition von Fahrlässigkeit im Öffentlichen Nahverkehr und über die unerwarteten Neuerungen der jüngsten Zeit auf dem Gebiet der allgemeinen Paradigmen im Deliktrecht, in den Jahren seit den von Nixon ernannten Richtern. Und dann sagte Sallie, sie wolle sich vorm Abendessen noch kurz hinlegen, und ging nach oben, offensichtlich entmutigt von ihrem Tag und vom Weinen.
    Seit ich sie kenne, leidet Sallie an etwas, das sie ihre Kriegsträume nennt – gewalttätige, galoppierende, groteske, zerstörerische Technicolor-Alpträume ohne Handlung oder zusammenhängendes Szenario, nur plötzliche Abstürze in den tiefsten Schlaf, begleitet von Bildern verstümmelter, durch die Gegend fliegender Körper, von Explosionen und aufleuchtenden Blitzen und Soldaten unbekannter Armeen, die durch Falltüren geschleudert, aufgehängt oder durch Bombenschächte in den schreiend leeren Raum gestoßen werden. So entsetzliche Dinge, dass ich sie mir tatsächlich ungern erzählen lasse und dass jedem dabei vor Angst Hören und Sehen vergehen würde. Normalerweise erwacht sie aus diesen Träumen etwas erschöpft, aber nicht besonders verstört. Aus diesem Grund halte ich ihre Konstitution für äußerst zäh. Einmal habe ich sie davon überzeugt, sich ein paar Wochen auf Dr. Merle Mackeys bekannte Couch zu legen, damit er versuchte, dem ganzen Tohuwabohu auf den Grund zu gehen. Was sie bereitwillig tat. Aber nach anderthalb Monaten sagte Merle zu ihr – und auch zu mir, im Vertrauen, auf dem Tennisplatz –, sie sei geistig und stimmungsmäßig so stark wie ein Rennpferd, es gebe eben Dinge, die sich ohne nachweislichen Grund ereigneten, ganz gleich, wie Dr. Freud das gesehen habe. Und in Sallies Fall seien ihre Träume (stets in unregelmäßigen Abständen) einfach nur die barocke Hintergrundmusik ihres Daseins auf der Erde und nicht, soweit er sagen könne, verdrängte Erinnerungen an irgendeinen elterlichen Missbrauch oder eine andere private Katastrophe, der sie am helllichten Tage nicht ins Auge sehen könne. »Es gehört zum menschlichen Wesen, komisch zu sein, Bob«, sagte Merle. »Überall ringsum blüht und gedeiht das. Du hast wahrscheinlich auch was davon weg. Wo kamst du noch gleich her, Mississippi?« »Stimmt«, sagte ich. »Na, dann will ich dich lieber nicht auf meiner Couch sehen. Das könnte ewig dauern.« Merle verzog das Gesicht wie irgendein präpotenter Butler. »Nein, da brauchen wir gar nicht erst tiefer zu bohren«, sagte ich. »Nein, mein Herr«, sagte Merle, »das brauchen wir wirklich nicht.« Er grinste breit, und das war’s dann.
    Nachdem Sallie eingeschlafen war, stellte ich mich wieder an die Terrassentür. Es war fast dunkel, und die kleinen weißen Birnen, die sie wie eine Festtagsbeleuchtung in den Kirschlorbeer geflochten hatte, waren dank Zeitschaltuhr angegangen und tauchten den Garten in eine fast weihnachtliche Beleuchtung. Im French Quarter kann die Abenddämmerung eine magische Stunde sein – der Himmel hellblau, die Straßen üppig und verschwommen. Der Welpe war in die Mitte des Gartens zurückgekehrt und hatte sich hingelegt, die scharfe kleine Schnauze auf seinen gefleckten Vorderpfoten ruhend. Ich konnte seine kleinen Wildkatzenaugen nicht sehen, aber ich wusste, sie waren schon auf mich trainiert, wie ich da stand und ihn beobachtete, das gelbe Licht des Kronleuchters hinter mir. Er trug

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