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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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gebunden. Und Roger braucht eine Starthilfe für sein Leben, muss »Beratung« in den Rückspiegel verbannen. Man muss Prioritäten setzen.
    Draußen ist jetzt der Lichterumzug losgegangen – ein Band aus schwankenden Fackeln gleitet lautlos den Könner-Hang hinunter wie überschwappende menschliche Lava. Durch das Panoramafenster ist alles unnatürlich deutlich zu sehen. Eine große Zuschauermenge hat sich am Fuß des Hangs zusammengerottet, hinter ein, zwei Schneezäunen, viele halten Kerzen in Papiermanschetten wie bei einem Grateful-Dead-Konzert. Überall ist das künstliche Licht gelöscht worden, nur die Julzeit-Tanne auf der Hügelkuppe nicht. Die jungen Smorgasbord-Kellner in ihren Schürzen und Papierhütchen haben sich ans Fenster gestellt, um das Ereignis ein weiteres Mal mitzuerleben. Einige spotten. Einer denkt daran, das Licht im Saal Tirol zu löschen. Das Abendessen ist ausgesetzt.
    »Machst du Abfahrt?«, fragt Roger und beugt sich im Halbdunkel über seinen leeren Teller. Aus irgendeinem Grund flüstert er. Das könnte alles noch ganz prima werden, denkt er, wie Faith klar wird: Die Mädchen bei ihr abladen. Haufen Jets verschrotten. Bisschen nett sein, schon läuft’s.
    »Nein, nie«, sagt Faith und sieht den Fackelträgern verträumt bei ihrer paarweisen Schussfahrt zu, eine gewundene, undramatische Reise abwärts. »Es macht mir Angst.«
    »Du würdest dich dran gewöhnen.« Unerwartet greift Roger über den Tisch, wo ihre Hände links und rechts von ihrem unberührten Salat liegen. Er berührt eine dieser Hände, tätschelt sie dann. »Und übrigens«, sagt Roger, »danke. Wirklich. Ganz herzlichen Dank.«
    In der Ferienwohnung ist alles heiter. Esther und die Mädchen sind immer noch auf der Eisbahn. Roger ist zur Wärmehütte zurückgeschlendert. Er hat eine Freundin in Port Clinton, eine frühere Beratungsklientin von der High School, jetzt geschieden. Er wird sie anrufen, ihr von seinen neuen Tennessee-Plänen erzählen und hinzufügen, er wünschte, sie wäre hier bei ihm in Snow Mountain Highlands und seine Familie in Ruanda. Bobbie heißt sie.
    Ein Anruf bei Jack ist absolut in Ordnung. Doch zuerst beschließt Faith, den frisch geschmückten Gummibaum näher ans Fenster zu schieben, wo es eine Steckdose gibt. Nach dem Einstöpseln leuchten die meisten der kleinen weißen Birnen fröhlich auf. Nur wenige versagen, und in der Schachtel gibt es Ersatz. Das ist ein Fortschritt. Später, morgen, können sie den Stern obendrauf stecken – das Lieblingsritual ihres Vaters. »Jetzt wird es Zeit für den Stern«, sagte er immer. »Den Stern der Weisen.« Ihr Vater war Musiker, ein erfahrener Holzbläser. Ein begabter Mann und natürlich Trinker. Außerdem erfahren mit Frauen, die nicht seine Ehefrau waren. Er unterrichtete unermüdlich an einem Junior College, damit sie über die Runden kamen. Es war sein Wunsch, dass Faith Anwältin würde, also wurde sie natürlich eine. Für Daisy hatte er keine genaueren Pläne, also wurde sie natürlich Trinkerin und etwas später energische Nymphomanin. Irgendwann starb er, zu Hause. Der Paterfamilias. Danach, nicht davor, fing ihre Mutter an, Gewicht zuzulegen. »Na ja, und mein Gewicht, nicht zu vergessen«, pflegte sie es auszudrücken. Sie akzeptierte es als gegeben: Zunahme als natürliche Folge von Verlust.
    Aber Jack nun in London oder New York anrufen? (Nantucket kommt nicht in Frage, und Jack hat sein Handy nie außerhalb der Geschäftszeiten an.) Wo ist Jack? In London war es nach Mitternacht. In New York dieselbe Zeit wie hier. Halb neun. Und was für eine Nachricht hinterlassen? Sie könnte einfach sagen, sie sei einsam; oder sie hätte Schmerzen in der Brust oder Besorgnis erregende Testergebnisse. (Die müssten sich dann auf mysteriöse Weise wieder verziehen.)
    Aber zuerst mal London. Die Wohnung in Sloane Terrace, einen halben Häuserblock von der U-Bahn entfernt. Sie hatten im Oriel gefrühstückt, dann war Jack zum Arbeiten in die City gefahren, während sie sich das Tate vornahm, die Bacons waren ihre Spezialität. So weit weg von Snow Mountain Highlands – das war ihr Gefühl beim Wählen der Nummer – ein sehr, sehr fernes Ferngespräch.
    Drring-dsching, drring-dsching, drring-dsching, drring-dsching, drring-dsching. Nichts.
    Es gab eine zweite Nummer, nur für Nachrichten, aber sie hatte sie vergessen. Noch mal anrufen, falls sie sich verwählt hatte. Drring-dsching, drring-dsching, drring-dsching …
    Dann eben New York. Die 50.

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