Eine Vielzahl von Sünden
exotisches Kasino in einem Paul-Muni-Film? Anmutige Eisläufer schweben über eine beleuchtete Eisbahn. Ein geschmückter Lift immer noch in gemächlicher Bewegung, einige wenige letzte Skiläufer wollen noch eine seidige Schwebefahrt ohne Fackel unternehmen, bevor die Lichter ausgehen. Der große Baum leuchtet vom Gipfel herunter.
Nur dass dies kein besonders hübscher Teil von Michigan ist. Nichts zu sehen – dunkle Stämme, kalte, tote Wasserfälle, Girlanden aus schwerem Schnee, die in den Tannenzweigen hängen.
Und sie versteift sich. So schnell geht das. Neue Muskeln werden angesprochen. Besser nicht so weit laufen.
Daisy, ihre Schwester, fällt ihr ein. Daisy, die bald mit einer ganz neuen Sicht auf das Leben aus der Klinik kommen wird. Drinnen hat es natürlich das Ritual in zwölf Schritten gegeben, das das normale Programm aus Entzug und Reue ergänzt. Und irgendjemand hat Daisy irgendwo, irgendwann, womöglich vor Jahrzehnten, ganz sicher in unpassender und für ihr Wohlbefinden schädlicher Weise berührt, wie sich herausstellen wird, in einem viel zu zarten Alter. Und nicht nur einmal, sondern viele Male, diverse schreckliche, stumme Jahre lang. Der Täter womöglich ein älterer, verdächtiger Jugendlicher aus der Nachbarschaft – ein Einzelgänger – oder ein allzu onkelhafter Schulbibliothekar. Selbst der Paterfamilias wird postum einer genaueren Untersuchung unterzogen werden (die historische Perspektive ist, wie immer, unbeweisbar und daher unbestreitbar).
Dann werden natürlich allen gewisse Opfer in puncto Würde abverlangt, was diesen reichhaltigen Nachrichten aus der Vergangenheit geschuldet ist: aus einer Welt, die um so vieles tödlicher war, als irgendjemand glauben konnte, nichts war so, wie wir es uns dachten; so vieles blieb dem Auge verborgen; wenn das nur jemand gewusst hätte, der es hätte aussprechen und eine Verständigung darüber in Gang setzen können, dem man hätte trauen und sich anvertrauen können, blablabla. Ihre Mutter wird, zwangsläufig, keinen Verdacht geschöpft haben, hätte es aber tun müssen, keine Frage. Vielleicht wird Daisy selbst angedeutet haben, dass Faith lesbisch ist. Der Schneeballeffekt. Keiner sicher, keiner unschuldig.
Weiter oben, im Dunkeln, nach anderthalb Kilometern auf der Tour, befindet sich Hütte 1 rechts von der Langlaufloipe 1 – ein verdunkelter Kloß auf einer kleinen Lichtung, ein Ort zum Ausruhen, zum Aufholenlassen der anderen (falls es andere gibt). Ein perfekter Ort zum Umkehren.
Hütte 1 ist nichts Schickes, wie ein einfaches rustikales Wartehäuschen vom Schulbus, auf einer Seite offen, aus behauenen Stämmen gebaut. Draußen auf dem Schnee liegen Krusten von kleinen Brötchen, ein Stück Pizza, ein paar aufgeweichte Papiertaschentücher, drei Bierdosen – Leckerbissen für die Waldtiere –, und jedes Ding wirft seinen kleinen Schatten auf die weiße Oberfläche.
Obwohl im trüben Inneren auf einer Plankenbank nicht etwa Schulkinder sitzen, sondern Roger, der Schwager, in seinem puderblauen Skianzug und Wanderstiefeln. Singt er doch nicht Karaoke. Sie hat auf der Loipe gar keine Stiefelspuren gesehen. Roger ist einfallsreicher, als er zunächst wirkt.
»Ist das eine besch-eidene Kälte hier oben.« Roger spricht aus dem Dunkel von Hütte 1. Seine schwarze Brille trägt er jetzt nicht, und überhaupt ist er kaum zu sehen, obwohl sie spürt, dass er lächelt – seine braunen Augen noch enger beieinander.
»Was machst du denn hier oben, Roger?«, fragt Faith.
»Och«, sagt Roger aus der Finsternis heraus. »Ich dachte einfach, ich geh mal rauf.« Er kreuzt die Arme vor der Brust und streckt seine Wanderstiefel in das Schneelicht, als wäre er eine Art High-School-Cowboy.
»Wozu?« Ihre Knie sind zugleich steif und weich von der Anstrengung. Ihr Herz hat angefangen, heftig zu schlagen. Sie hat kalten Schweiß auf der Lippe. Die Temperaturen bewegen sich unter minus fünf Grad. Im Winter werden die unschuldigsten Orte mit einem Mal tödlich.
»Wer nicht wagt«, sagt Roger. Er macht sich über sie lustig.
»Ich kehre hier um«, wagt sich Faith vor. »Möchtest du mit mir den Berg hinunterfahren?« Was sie gern hätte, wäre mehr Licht. Wesentlich mehr Licht. Eine Birne in dem Unterstand wäre sehr gut. Im Dunkeln passieren manchmal schlimme Dinge, die sich bei Licht als undenkbar herausstellen würden.
»Das Leben führt einen an ziemlich interessante Orte, nicht wahr, Faith?«
Sie würde gern lächeln und sich nicht
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