Eine Vielzahl von Sünden
von Roger bedroht fühlen, der bei seinen Töchtern sein sollte.
»Kann schon sein«, sagt sie. In der trockenen Luft riecht es nach Alkohol. Er ist betrunken, und er improvisiert all das hier. Eine ungute Kombination.
»Du bist sehr hübsch. Sehr hübsch. Die große Anwältin«, sagt Roger. »Komm doch zu mir herein.«
»O nein, vielen Dank«, sagt Faith. Roger ist widerlich, aber er gehört auch zur Familie, und sie fühlt sich gelähmt, weil sie nicht weiß, was sie tun soll – eine sehr ungewöhnliche Situation. Sie wäre gern beweglicher auf ihren Skiern, würde gern aufspringen und feststellen, dass sie schon gewendet hat und davongleitet.
»Ich war immer der Ansicht, dass wir beide in der richtigen Situation eine ganze Menge Spaß miteinander haben könnten«, fährt Roger fort.
»Roger, ich halte es nicht für gut, das zu tun«, was immer er gerade tut. Sie will ihn anfunkeln und merkt, dass ihre Knie zittern. Sie fühlt sich sehr, sehr groß auf ihren Skiern, ungewöhnlich schutzlos.
»Natürlich ist es gut, das zu tun«, sagt Roger. »Dafür bin ich doch hier hochgekommen. Für ein bisschen Spaß.«
»Ich will aber nicht, dass wir hier oben irgendwas tun, Roger«, sagt Faith. »In Ordnung?« So, erkennt sie, fühlt sich Angst an – so wie man sich in einem nächtlichen Parkhaus fühlen würde oder wenn man allein über ein abgelegenes Fabrikgelände joggen oder am frühen Morgen nach Hause kommen und nach den Schlüsseln wühlen würde. Schutzlos. Und dann wäre da plötzlich einer. Bingo. Ein Mann, der bedrückend gewöhnlich aussieht und noch keinen genauen Plan hat.
»Nee, nee. Das ist absolut nicht in Ordnung.« Roger steht auf, bleibt aber im Schutz des Dunkels. »Die Anwältin«, sagt er wieder, immer noch grinsend.
»Ich kehre jetzt einfach um«, sagt Faith und beginnt, sehr unsicher ihren langen linken Ski aus der Spur zu heben und dann, auf ihre Stöcke gestützt, auch den rechten Ski. Hoch aus der Spur. Ihr wird etwas schwindlig, ihre Waden schmerzen, und es ist kompliziert, nicht die Spitzen der Skier zu kreuzen. Ganz wesentlich ist es, stehen zu bleiben. Jetzt hinzufallen, das hieße Kapitulation. Wie heißt der Ski-Ausdruck? Tele… Tele-sowieso. Sie wünschte, sie könnte Tele-sowieso. Mit Tele-sowieso hier raus, was das Zeug hält. Ihre Oberschenkel brennen. In Kalifornien, denkt sie, ist sie eine Beamtin bei Gericht. Eine öffentliche Angestellte, eingeschworen darauf, das Gesetz hochzuhalten – allerdings nicht, seine Einhaltung zu überwachen. Sie ist ein Halt für das Gute.
»Du siehst albern aus, wie du da stehst«, sagt Roger albern.
Sie hat nicht vor, noch irgendetwas zu sagen. Es gibt eigentlich nichts zu sagen. Gespräch ist jetzt nicht das Nächstliegende, und sie konzentriert sich sehr. Einen Augenblick lang glaubt sie, wieder Musik zu hören, ganz weit weg. Das kann nicht sein.
»Wenn du dich ganz umgedreht hast«, sagt Roger, »dann zeige ich dir mal was.« Er sagt nicht, was. Im Geist – während sie ihre Skier zentimeterweise bewegt, mit schweren Knöcheln – im Geist sagt sie: »Und dann?«, aber sie sagt es nicht.
»Ich hasse deine besch-eidene Familie echt«, sagt Roger. Seine Stiefel machen knirsch im Schnee. Sie wirft einen Blick über die Schulter, aber ihn anzusehen, das ist zu viel. Er kommt näher. Sie wird hinfallen, und dann werden dramatische, bedauerliche Dinge geschehen. Mit einer Bewegung, die er wahrscheinlich dramatisch findet, zieht Roger – obwohl sie es nicht sehen kann – seinen blauen Skianzug vorn auf. Er will, dass sie dieses Geräusch hört. Sie hat jetzt zu drei Vierteln gewendet. Sie könnte ihn über die linke Schulter sehen, wenn sie wollte. Mal gucken, mal nachgucken, was das ganze Getöse soll. Ihr ist heiß. Drunter ist sie durchgeschwitzt.
»Tja, ja, das Leben führt einen in ziemlich interessante Situationen.« Er wiederholt sich. Noch ein Reißverschluss ist zu hören. So sieht das aus, wenn in Rogers Weltsicht eine ganze Menge Spaß stattfindet.
»Ja«, sagt sie, »allerdings.« Jetzt ist sie fast ganz herum.
Sie hört ein kleines Glucksen von Roger, ein unbelustigtes »Hnh«. Dann sagt er: »Fast.« Sie hört ein matschendes Geräusch seiner Stiefel. Sie spürt seine Person tatsächlich nahe neben sich. Das wird ihm ganz bestimmt helfen zu unterstreichen, wie sehr er ihre Familie hasst.
Dann Stimmen – rettende Stimmen – hinter ihr. Sie kann nicht anders, sie muss jetzt über ihre linke Schulter schauen, hoch auf
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