Eine Vielzahl von Sünden
Straße auf der East Side. Ganz weit im Osten. Das hübsche kleine Scheibchen Aussicht auf den Fluss. Der kleine Unterschlupf, den er auch nach dem College behalten hatte. Seine Abzeichen aus dem ersten Jahr, eingerahmt. 1971. Sie hatte sich die Mühe gemacht, das Schlafzimmer renovieren zu lassen. Alles weiß. Eine lächelnde sonnengebräunte Faith auf dem Boot, in rotem Leder gerahmt. Noch ein Bild, sie beide zusammen in Cabo, am Strand. Alles gleichermaßen weit weg von Snow Mountain Highlands.
Drring, drring, drring, drring. Dann klick. »Hi, hier ist Jack.« Fast erwidert sie: »Hi.« – »Ich bin gerade nicht da« usw. usf., dann ein Pfeifton.
»Frohe Weihnachten, ich bin’s. Ähmmm, Faith.« Sie hängt fest, ist aber kein bisschen nervös. Sie könnte ihm genauso gut alles erzählen. Folgendes ist heute passiert: die Schornsteine des Atomkraftwerks, der Plastik-Gummibaum, der Lichter-Umzug, das Smorgasbord, Eddie von vor Jahren, der geplante Umzug der Mädchen nach Kalifornien. Alle weihnachtlichen Dinge. »Ähmmm, ich wollte bloß sagen, dass es … mir gut geht und dass ich denke – nein, schreiben Sie hoffe –, dass ich hoffe , dir auch. Ich bin nach Weihnachten wieder zu Hause – also am Strand. Ich würde wahnsinnig gern – nein, streichen Sie wahnsinnig – von dir hören. Ich bin in Snow Mountain Highlands. In Michigan.« Sie unterbricht, erwägt innerlich, ob es noch weitere Neuigkeiten gibt, die wert sind, berichtet zu werden. Nein, keine. Dann merkt sie (zu spät), dass sie seinen Anrufbeantworter wie ihr Diktafon behandelt hat. Es gibt keine Korrekturmöglichkeit. Dumm. Ihr Fehler. »Also, auf Wiedersehen«, sagt sie und merkt, dass das etwas steif klingt, korrigiert es aber nicht. Zwischen ihnen ist sowieso alles vorbei. Wen juckt’s? Sie hat angerufen.
Draußen auf der Langlaufloipe 1 sind weiche weiße Glühbirnen, den Weihnachtsbaumlichtern in der Wohnung nicht unähnlich, in einigen Fichten befestigt worden – hell genug, dass man sich im Dunkeln nicht verirren kann, und schwach genug, um den geheimnisvollen Effekt nicht zu verderben.
Diese Art Skilaufen mag sie übrigens auch nicht besonders. Eigentlich nicht. Immer dieses mühselige Wachsen, die steifen Leihschuhe, die langen unpraktischen Skier, die verschwitzte Unterwäsche, die Möglichkeit, dass all das auf eine Erkältung und versäumte Arbeitszeit hinauslaufen könnte. Das Fitness-Studio ist besser. Maximale Energie, dann bist du schnell wieder sauber und wieder im Auto, wieder im Büro. Wieder am Telefon. Sie ist sportlich, aber entschieden nicht sportbesessen. Wie auch immer, das hier ist jedenfalls nicht beängstigend.
Niemand begleitet sie auf der nächtlichen Langlaufloipe 1, da der Lichter-Umzug die anderen Skiläufer weggelockt hat. Zwei Japaner haben sich am Anfang der Loipe unterhalten, kleine beige Männer in leuchtend grünem Lycra – glatte, ernste Gesichter, riesige Schenkel, plumpe Kurzer-Prozess-Arme –, die den anspruchsvollen Parcours – genannt »Die Bestie« –, die Langlaufloipe 3, in Angriff nehmen wollten. Auf ihren runden, wollstrumpfbekleideten Köpfen haben sie kleine Lampen getragen, wie Bergleute, um sich den Weg zu leuchten. Sie waren sofort verschwunden.
Hier summt der Schnee geradezu zum Klang ihrer Gleitschritte. Ein Vollmond reitet hinter filigranen Wolken, während sie im fast vollständigen Dunkel der verharschten Wälder vorwärts gleitet. Sie kann den Wind hoch oben in den höchsten Kiefern und Hemlocktannen hören, aber am Boden weht er nicht, da ist nur die Kälte, die der metallische Schnee ausstrahlt. Ihr ist höchstens an den Ohren kalt, dort und an der Schweißlinie ihrer Haare. Ihr Herzschlag ist kaum zu hören. Sie ist fit.
Einen Augenblick lang vernimmt sie entfernt Musik, eine Gesangsstimme mit Orchesterbegleitung. Sie hält inne, um zuzuhören. Der Puls der Musik schwebt durch die Bäume. Merkwürdig. Vielleicht ist das Roger, denkt sie zwischen zwei tiefen Atemzügen; Roger auf der Bühne in der Karaoke-Bar, wie er den anderen Einsamen im Dunkel seine Greatest Hits vorsingt. »Blue Bayou«, »Layla«, »Tommy«, »Try to Remember«. Roger in sicherer Entfernung. Ihre Haare, merkt sie, glänzen im Mondlicht. Falls sie beobachtet wird, sieht sie zumindest gut aus.
Aber wäre das nicht romantisch, von diesem Wald aus durch die Dunkelheit zu spähen und da unten eine leuchtende Jagdhütte mit zahlreichen Seitenflügeln zu entdecken, die Fenster hell erglühend, wie ein
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