Eine Vielzahl von Sünden
der Ärger warten. Marjories Augen wandern zu dem Geräusch, dann schwimmen sie wieder vor Schläfrigkeit. Sie ist in Sicherheit.
»Lass den Baum an«, instruiert Marjorie, obwohl sie schläft.
»Klar, okay, na klar«, sagt Faith. »Der Baum bleibt. Wir behalten den Baum.«
Sie schlüpft mit der Hand unter Marjorie, die aus alter Gewohnheit ihre Hand ausstreckt und Faith am Hals streichelt. Im Nu hat diese die Kleine auf dem Arm, mit Deckchen und allem, und trägt sie vollkommen mühelos in das verdunkelte Schlafzimmer, wo die Schwester auf einem der beiden Einzelbetten schläft. Vorsichtig legt sie Marjorie auf das leere Bett und deckt sie wieder zu. Erneut glaubt sie, das leise Klopfen zu hören, aber es verstummt. Sie hält es für unwahrscheinlich, dass es heute Nacht noch einmal klopfen wird.
Jane schläft mit dem Gesicht zur Wand, ihr Atem ist tief und hörbar. Jane schläft gut, Marjorie weniger verlässlich. Faith steht mitten in dem dunklen, fensterlosen Raum, zwischen den beiden Betten, und der blinkende Weihnachtsbaum sucht die Stille heim, die einen solchen Preis gekostet hat. Das Zimmer riecht schimmlig und klamm, als wäre es seit Monaten geschlossen gewesen und nur für diesen Zweck, diese Nacht, diese Kinder geöffnet worden. Sie erinnert sich, wenn auch nur kurz, an andere Weihnachten, die vielleicht einmal ihr gehörten. »Okay«, flüstert sie, »okay, okay, okay.«
Faith zieht sich im Elternschlafzimmer aus, zu müde zum Duschen. Ihre Mutter schläft auf einer Seite des gemeinsamen Bettes. Sie ist ein kleiner Berg, sichtbar unter der Decke atmend. Ein halb geleertes Glas Rotwein steht auf dem Nachttisch neben ihrer Halskrause. Ein Bild mit einem weißen Segelboot auf einem ruhigen blauen Meer hängt über dem Bett. Faith schließt die Tür halb zum Ausziehen, hält die blinkenden Weihnachtslichter ab.
Heute Nacht wird sie einen Schlafanzug tragen, ihrer Mutter zuliebe. Sie hat einen neuen gekauft. Weiß, reine Seide, so weich wie Wasser. Litzen aus blauer Seide.
Und hier der unerwartete Anblick der eigenen Gestalt in dem billigen, welligen Türspiegel. Alles gut. Nur die kleine blasse Narbe, wo eine Zyste aus ihrer linken Brust gekerbt wurde, eine Narbe ohne Bedeutung, die niemand bemerken würde. Aber immer noch eine gute Wirkung. Dünn, harte Oberschenkel. Ein kleiner hübscher Bauch. Jungenshüften. Nichts zu meckern an dem ganzen Paket.
Es braucht ein Glas Wasser. Man soll immer ein Glas Wasser mit ins Bett nehmen, nie ein Glas Rotwein. Als sie am Wohnzimmerfenster vorbeikommt, Ziel ist die winzige Küche, da sieht sie, dass das Eishockeyspiel jetzt vorbei ist. Schon nach Mitternacht. Die Spieler schütteln sich auf dem Eis die Hände, andere fahren in großen Kreisen herum. Am Könner-Hang oberhalb der Eisbahn sind die Lichter wieder eingeschaltet worden. Maschinen mit Scheinwerfern bringen den Schnee trotz der tückischen Neigungswinkel mit großem Risiko in Ordnung.
Und sie sieht Roger. Er ist auf halber Strecke zwischen der Eisbahn und den Appartements zu Fuß in seinem puderblauen Anzug unterwegs. Er hat sich, kein Zweifel, das Eishockeyspiel angeschaut. Roger bleibt stehen und sieht zu ihr hoch, wie sie in ihrem weißen Schlafanzug am Fenster steht, vor dem Hintergrund der blinkenden Weihnachtslichter. Er bleibt stehen und starrt. Er hat seine schwarzrandige Brille wiedergefunden. Sein Mund bewegt sich, aber sonst nichts. In dieser Herberge ist kein Platz für Roger.
Ihre Mutter ist im Bett sogar noch größer. Eine großartige Wärmequelle, etwas feucht, als Faith ihren Rücken berührt. Ihre Mutter trägt blauen Gingham, ein Nachthemd, das sich nicht sehr von ihrem Mumu für den Tag unterscheidet. Sie riecht unerwartet gut. Satt.
Wie lang, fragt sich Faith, ist es her, dass sie bei ihrer Mutter geschlafen hat? Hundert Jahre? Zwanzig? Aber gut, dass es ihr so normal vorkommt.
Sie hat die Tür offen gelassen, falls die Mädchen rufen sollten, falls sie aufwachen und Angst haben, falls sie ihren Vater vermissen. Die Weihnachtslichter blinken fröhlich, an und aus, jenseits der Türschwelle. Sie hört Schnee über das Dach rutschen, ein Auto, dessen Ketten leise irgendwo klirren, außer Sicht. Sie hatte vor, ihren Anrufbeantworter abzufragen, dann aber nicht mehr daran gedacht.
Und wie lange ist es her, fragt sie sich, dass ihre Mutter schlank und hübsch war? Waren das die Sechziger? Das kann eigentlich nicht sein. Damals war sie ja noch ein Mädchen. Sie – die Sechziger
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