Eine Vielzahl von Sünden
vollen, ausdrucksstarken Lippen und dunklen dichten Augenbrauen, verloren sich fast in ihren Haaren.
Henry band weiter seine Krawatte. Draußen, in dem Stadtpanorama jenseits des Fensters, stand ein großer T-förmiger Baukran, dessen langer kreuzender Arm auf beiden Seiten von Madeleines Kopf herauszuragen schien, wie ein Pfeil. Henry konnte das grüne Führerhäuschen erkennen, in dem ein winziges menschliches Wesen sichtbar wurde, hinter ihm ein winziges Fenster.
»Alle berühmten Kanadier, von denen du nie gedacht hättest, dass sie Kanadier sind, zum Beispiel.« Sie sah ihn nicht an, starrte nur nach unten.
» Par exemple? « Mehr Französisch konnte er nicht. Hier wurde Englisch gesprochen. Die konnten Englisch mit ihm sprechen. »Nenn mal einen.«
Madeleine warf ihm einen gönnerhaften Blick zu. »Denny Doherty, von The Mamas and the Papas . Er kommt aus Halifax. Donald Sutherland stammt auch von den Inseln. Prince Edward Island, glaube ich.«
Madeleine wirkte anders, als sie tatsächlich war – eine Eigenschaft, die immer einen seltsamen Kitzel für ihn gehabt hatte, denn es machte sie unentzifferbar. Normalerweise sahen die Leute so aus, wie sie waren. Steife Leute wirkten steif usw. Madeleine sah so aus, wie ihr Name es nahe legte, etwas altmodisch, förmlich, in sich ruhend, zu abgewogenen Reaktionen neigend und dazu, sich in ihrer Haut und ihrer Persönlichkeit wohl zu fühlen.
Dabei war sie nichts dergleichen. Sie war ein kräftiges Bauernmädchen aus der Gegend nördlich von Halifax, war als Teenager Curlingmeisterin gewesen, blieb gern lange auf zu Sex, Albernheiten und Hochprozentigem und konnte manchmal reichlich unsicher sein. Er schrieb diese Unausgeglichenheit ihrem Altersunterschied zu (als sie auf die Welt kam, war er sechzehn gewesen) und glaubte, dass andere Bekannte sie gar nicht unausgeglichen fänden. Die jüngeren Leute ließen heutzutage sowieso mehr gelten, fand er, vor allem Kanadier. Das würde ihm fehlen.
Madeleine betrachtete sinnierend die Autos, die unten neben der Kathedrale Marie-Reine-du-Monde aufgereiht standen. »Ein bisschen diesig zum Fliegen«, sagte sie. »Ich würde einfach hier bleiben.«
Es war elf. Das Frühstückstablett stand auf dem zerwühlten Bett und den verstreuten Zeitungen. Henry mochte die kanadischen Zeitungen mit ihren Artikeln über alles, was nicht im Lot war und ihm egal sein konnte.
Henry Rothman war ein großer Mann mit Brille, der in seiner Jugend dem Schauspieler Elliott Gould in Bob & Carol & Ted & Alice ähnlich gesehen hatte, obwohl er immer fand, er sei weniger schwermütig als Ted, die Figur, die Elliott Gould gespielt hatte. Rothman war Anwalt, nicht nur Lobbyist, und vertrat mehrere große Firmen, die auf der ganzen Welt Geschäftsbeziehungen hatten. Er war Jude, genau wie Elliott Gould, war aber in Roanoke aufgewachsen, dann an die University of Virginia und später an deren Juristische Fakultät gegangen. Seine Eltern, früher Kleinstadtärzte, wohnten jetzt in Boca Grande, wo sie abwechselnd ekstatisch und gelangweilt in einer Eigentumswohnung saßen und nichts taten. Seine Brüder David und Michael arbeiteten als Prozessanwälte in Henrys Kanzlei. Er war seit zehn Jahren geschieden und hatte eine Tochter, die in Needham, Massachusetts, als Lehrerin arbeitete.
Madeleine Granville wusste, was Dinge kosteten: Dünger, Frachtkosten bei der Bahn, Containerschiffe voller Soja, Mais; sie kannte sich aus mit Termingeschäften, Arbeitskosten, Währungen, dem Preis des Geldes. Sie hatte in McGill Wirtschaftswissenschaften studiert, beherrschte fünf Sprachen, hatte in Griechenland gelebt und davon geträumt, Malerin zu sein, bis sie einen gut aussehenden jungen Architekten im Zug von Athen nach Sofia kennen lernte und rasch heiratete. Sie hatten sich in Montreal niedergelassen, wo der Architekt sein Büro hatte und wo es ihnen gut gefiel. Rothman fand das jung, unbesonnen, aufregend, aber auch gewitzt, vernünftig, clever. Es gefiel ihm sehr gut. Es kam ihm sehr kanadisch vor. Kanada schien ohnehin in vielerlei Hinsicht Amerika überlegen zu sein. Kanada war rationaler, toleranter, freundlicher, sicherer, weniger streitsüchtig. Er überlegte, sich als Rentner hierher zurückzuziehen, vielleicht nach Cape Breton, wo er noch nie gewesen war. Er und Madeleine hatten darüber gesprochen, gemeinsam am Meer zu leben. Es war zu einem dieser restlos faszinierenden Themen geworden, denen man eine Woche lang seine ganze Aufmerksamkeit widmet –
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