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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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feuchte Brauns. In Washington war gerade mal der Sommer vorbei.
    Er schrak hoch, als das Telefon ein viertes Mal klingelte. Seit er in dem Zimmer wohnte, hatte es überhaupt noch nicht geklingelt. Niemand wusste, dass er hier war. Henry starrte das weiße Telefon neben dem Bett an. »Willst du nicht rangehen?«, sagte sie. Sie starrten beide das weiße Telefon an.
    Das Telefon klingelte ein fünftes Mal, sehr laut, dann nicht mehr.
    »Da hat sich einer verwählt. Oder das Hotel will wissen, ob ich schon raus bin.« Er berührte sein Brillengestell. Madeleine sah ihn blinzelnd an. Sie glaubte nicht daran, dass sich einer verwählt hatte. Sie dachte an einen Störenfried. An eine andere Frau. Wer immer hinter ihr in der Schlange stand. Dabei stimmte das gar nicht. Niemand stand Schlange.
    Als das Telefon wieder klingelte, riss er den Hörer ans Ohr und sagte: »Rothman.«
    »Ist das Henry Rothman?« Da sprach eine unbekannte männliche Grinsestimme.
    »Ja.« Er sah Madeleine an. Sie beobachtete ihn mit einem Blick, der interessiert wirken sollte, aber nur anklagend war.
    »Also, ist das der Henry Rothman, der Top-Dollar-Anwalt aus den Staaten?«
    »Wer spricht da?« Er fixierte den Namen des Hotels auf dem Telefon. Queen Elizabeth II.
    »Was ist los, Arschloch, plötzlich nervös?« Der Mann kicherte ein freudloses Kichern.
    »Ich bin nicht nervös. Nein«, sagte Henry. »Sagen Sie doch, wer Sie sind.« Er sah wieder Madeleine an. Sie musterte ihn missbilligend, als spielte er ihr das ganze Gespräch nur vor und die Leitung wäre in Wirklichkeit tot.
    »Du bist ein scheiß-feiger Sack, das bist du«, sagte die Stimme am Telefon. »Wen hast du da in deinem Loch versteckt? Wer bläst dir gerade einen, du Kakerlake?«
    »Warum sagen Sie mir nicht einfach, wer Sie sind, und lassen den ganzen Kakerlaken-Quatsch bleiben«, sagte Rothman mit geduldiger Stimme. Am liebsten hätte er den Hörer aufgeknallt. Aber der Mann legte abrupt auf, bevor er es tun konnte.
    Der große schwarze Kran mit dem kleinen grünen Führerhäuschen ragte immer noch zu beiden Seiten aus Madeleines Kopf heraus. Auf einem Arm stand SAINT HYACINTHE .
    »Du wirkst schockiert«, sagte sie. Dann plötzlich: »O nein, o Scheiße, Scheiße.« Sie drehte sich zum Fenster und schlug die Hände vors Gesicht. »Sag bloß nicht«, sagte sie. »Es war Jeff, oder? Scheiße, Scheiße, Scheiße.«
    »Ich habe nichts zugegeben«, sagte Henry und ärgerte sich maßlos. Gleich würde es lautes Gehämmer vom Flur her geben, dann Schreie und Tritte und eine grässliche Prügelei, bei der das ganze Zimmer demoliert würde. All das kurz bevor er es schaffen konnte, zum Flughafen aufzubrechen. Er überlegte erneut, dass er tatsächlich nichts zugegeben hatte. »Ich habe nichts zugegeben«, wiederholte er und kam sich töricht vor.
    »Ich muss nachdenken«, sagte Madeleine. Sie sah blass aus und klopfte sich sanft auf die Wangen, als könnte sie so etwas Ordnung in ihrem Kopf schaffen. Theatralisch, fand er. »Ich brauche nur einen Augenblick Ruhe«, sagte sie.
    Henry ließ den Blick durch das beengte geruchlose Zimmer schweifen: das vollgestellte Bett mit dem silbernen Frühstückszubehör, die knospenförmige Glasvase mit einer roten Rose drin, der Frisiertisch und der leicht angestaubte Spiegel, der Sessel mit dem Blaue-Hortensien-Muster; zwei Reproduktionen von Monets Wasserlilien , einander gegenüber an unauffälligen weißen Wänden. Nichts deutete darauf hin, dass alles perfekt klappen und er seinen Flug pünktlich kriegen würde, und nichts deutete auf das Gegenteil hin. Dies hier war nur ein Schauplatz, ein Ort ohne Stimme, der nichts Tröstliches an sich hatte. Er wusste noch, dass Zimmer sich auch mal besser angefühlt hatten. Sein Besuch in Montreal war merkwürdig sinnlos geblieben – eine Selbstgefälligkeit, in der er jetzt gefangen war. Er dachte, was er oft dachte, wenn die Dinge gerade völlig schief liefen – und das hier kam ihm ganz schön schief vor –, er dachte, dass er zu viel erreichen wollte. Das war typisch für ihn. Wenn man jung war, galt es als gute Eigenschaft, es hieß, dass man ehrgeizig war und nach oben strebte. Mit neunundvierzig war es allerdings nicht so angebracht.
    »Ich muss überlegen, wo er sein könnte.« Madeleine hatte sich umgedreht und starrte das Telefon an, als säße ihr Mann da drin und könnte jederzeit daraus hervorbrechen. Es war so ein Moment, wo Madeleine anders war, als sie normalerweise wirkte: nicht das

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