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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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zwanghaft oder omen- und symbolhörig zu sein, die Worte hatte sie tatsächlich gedacht – »Toms Gesicht ist ein Totenkopf« – und sich als Sinnspruch auf einem Türsturz zu einem mythischen Gerichtssaal vorgestellt, als wäre es von Dante. So oder so, in dem, was sie glaubte, musste irgendwo die Vorstellung von einem Totenkopf stecken.
    Als Tom mit seinen Entschuldigungen fertig war, teilte ihm Nancy unaufgeregt mit, es würde nicht nötig sein, eine andere Werkstatt zu suchen, sofern er sich von Crystal nach ihrer Rückkehr aus Myrtle Beach fern hielte. Sie sagte, vielleicht habe sie einige Dinge falsch eingeschätzt, eine Ehekrise gehe, gerade bei langen Ehen, immer von beiden Partnern aus, solche Probleme seien nur ein Symptom und an sich nicht furchtbar wichtig. Ihr sei eigentlich ziemlich egal, was er getan habe. Heute Nachmittag habe sie überlegt, sich von ihm scheiden zu lassen, nur um nicht mehr über all das nachdenken zu müssen, aber letztendlich glaube sie eigentlich nicht, dass diese Affäre gegen sie gerichtet sei, aus dem nahe liegenden Grund, dass sie es nicht verdient habe. Sie sei davon überzeugt, was er getan habe, hänge mit den Themen zusammen, die er gerade angesprochen habe, und sie habe nun vor, ihm zu verzeihen und zu schauen, ob sie beide diese Klippe nicht mit noch größerem gegenseitigem Vertrauen umschiffen könnten.
    »Fick doch heute Abend einfach mit mir«, sagte sie zu ihm, dort am Tisch. Das Wort ficken war eine Provokation, aber auch etwas albern einem Ehemann gegenüber. »Das haben wir seit einiger Zeit nicht mehr getan.« Obwohl du es natürlich jeden Tag getan hast, mit deiner zurückgebliebenen Freundin da . Das dachte sie, wenn auch ungern.
    »Ja«, sagte Tom, allzu ernst. Dann: »Nein.«
    Seine großen Hände klammerten sich, gabellos, an der weißen Tischdecke fest, nicht weit von ihren. Keiner von beiden bewegte sich, um eine Berührung zu versuchen.
    »Es tut mir so Leid«, sagte Tom zum dritten oder vierten Mal, und sie wusste, dass es stimmte. Tom war kein Mann, der nicht zu seinen Gefühlen durchdrang. Er sagte nicht etwas und dachte dann darüber nach, was es wohl bedeuten könne, nun, da er es gesagt hatte, um am Ende festzustellen, dass es nichts bedeutete. Er war ein guter, aufrichtiger Mann, und diese Eigenschaften hatten aus ihm einen beispielhaften Detective im Kampf gegen den Raubüberfall gemacht, der die Kunst des Verhörs von Straftätern vollendet beherrschte. Tom nahm die Dinge ernst. »Ich hoffe, ich habe nicht unser Leben ruiniert«, fügte er traurig hinzu.
    »Das hoffe ich auch«, sagte Nancy. Sie wollte nicht daran denken, dass ihr Leben ruiniert sein könnte, das kam ihr lächerlich vor. Sie wollte sich darauf konzentrieren, was für ein ehrlicher, anständiger Mann er war. Kein Totenkopf. »Hast du wahrscheinlich auch nicht«, sagte sie.
    »Dann gehen wir jetzt nach Hause«, sagte er und faltete seine Serviette zusammen, nachdem er sich den Mund abgetupft hatte. »Ich bin so weit.«
    Nach Hause gehen hieß, er würde sie ficken, und bestimmt würde er das eifrig und zärtlich und ausdauernd tun. Das konnte er sehr gut. Es war keineswegs verrückt von Crystal gewesen, dass sie mit Tom ficken wollte statt mit ihrem nasalen Heulsusenfreund. Nancy fragte sich allerdings, warum sie selbst das jetzt auch erwartete; warum fick mich ? Wahrscheinlich sagte sie fick mich statt fick dich . Denn jetzt wollte sie es gar nicht mehr so sehr, obwohl es bestimmt dazu kommen würde. Sie verspürte Bedauern; denn sie war, das wurde ihr jetzt klar, genau die Art Mensch, die Tom ihrer Meinung nach nicht war, womit sie nicht meinte, dass sie treu war und er ein Ehebrecher; nein, sie war so eine, die etwas sagte und sich dann umschaute und überlegte, warum sie es gesagt hatte und welche Folgen das wohl haben würde, und oft auch, wie sie sich davor drücken konnte, genau das zu tun, was sie gerade als ihren Wunsch formuliert hatte. War das eine neue Seite an ihr, überlegte sie, vielleicht sogar entstanden durch Toms Betrug, oder war nur diese Selbsterkenntnis neu? Und wie sollte sie es benennen, fragte sie sich, als sie das Restaurant in Richtung Zuhause und Bett verließen, das, was sie war? Bestimmt konnte jeder Mensch das benennen. Bestimmt gab es ein Wort dafür. Es fiel ihr bloß nicht ein.
    Am nächsten Morgen, einem Freitag – nach der Nacht in Freeport – frühstückten sie in Wiscasset, in einem blitzblanken kleinen Diner an einem breiten grünlichen

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