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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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langweilen, die Inszenierung alberner kleiner Betrugsmanöver zu mühselig finden, und irgendwann musste ihn der dusslige Ausdruck von Crystals großem, allzu italienischem Mund unvermeidlich nerven. Dazu kamen gewichtigere Aspekte, wie der Betrug und das Risiko, in seinem – und Nancys – Leben unwiederbringlichen Schaden anzurichten.
    Tom hingegen schaffte es, über diese Hindernisse hinwegzusehen und monatelang fast täglich mit Crystal in ihrem Siebdruckatelier zu ficken, bis ihr Freund dahinter kam, Nancy in ihrem Büro anrief und Tom auffliegen ließ, indem er mit nasalem West-Virginia-Akzent sagte: »Na, und was machen wir mit unseren beiden künstlerischen Turteltäubchen?«
    Als Nancy Tom zur Rede stellte – beim Abendessen in einem asiatischen Restaurant nicht weit vom Büro des Offizialverteidigers – und ihm sagte, was Crystals Freund am Telefon erzählt hatte, wurde er sehr ernst, fixierte die Tischdecke und schlang seine langen, knochigen Finger um eine Salatgabel.
    Das sei richtig, gestand er, und es tue ihm Leid. Er sagte, mit Crystal zu ficken, sei wohl eine »Reaktion« darauf, dass er plötzlich, nach der Hälfte seines Lebens im Beruf, außer Dienst war und und immer noch unter seiner Verletzung leide, die jedes Mal schmerze, wenn es regne. Doch ebenso könne das Ganze auch an der schieren Freude über sein neues Leben liegen, das er für sich und auf seine Weise habe feiern müssen – ein »Kosmosgefühl«, wie er es nannte, manchmal fänden im Leben Handlungen außerhalb der Grenzen von Konvention, Verpflichtung, Vergangenheit und sogar gesundem Menschenverstand statt (wie eben auch die Ereignisse im Kosmos). Dieses neue Leben, sagte er, wolle er voll und ganz mit Nancy verbringen, die gefasst und wortkarg dasaß und eigentlich weder an Crystal noch an Tom noch an Crystals Freund oder sich selbst dachte. Während Tom redete (er schien überhaupt kein Ende mehr zu finden), erlebte sie vielmehr ein merkwürdiges Gefühl der Schwerelosigkeit, der Körperlosigkeit fast, als sähe sie sich selbst als Zuhörerin Toms von einer bequemen, aber leicht Schwindel erregenden Position hoch oben an der roten, verschnörkelten, chinesisch anmutenden Stuckdecke. Je mehr Tom redete, desto weniger anwesend fühlte sie sich, desto weniger materiell, desto weniger egal was . Wenn Tom immer weiter geredet hätte – weiter berichtet hätte über seine Probleme, seine Sorgen, sein altersbedingtes Gefühl, zu wenig geleistet zu haben, sein schwindendes Selbstwertgefühl, seit er nicht mehr Verbrecher mit der Waffe verfolgte –, dann, so spürte Nancy, hätte sie einfach völlig verschwinden können. Eine leichte Lösung für das Problem (falls es sich lediglich um ein Problem handelte): Schluss mit Crystal Blue; Schluss mit dem morbiden, reuigen Tom; Schluss mit den demütigenden, jämmerlichen Offenbarungen, die nahe legten, dass das eigene Leben jedem anderen Leben mehr ähnelte, als man bereit war zuzugeben – Schluss mit alldem, im Schwung ihrer Selbstauflösung.
    Während Toms lange Finger mit den Haarbüscheln drauf die hässliche, anstaltsartige Salatgabel um und um drehten wie ein Gebetstotem, stetig fixiert von seinem feierlichen Blick, hörte sie ihn sprechen. Er sagte, dass es mit Crystal jetzt endgültig aus sei. Ihr hinterwäldlerischer Freund hatte offenbar direkt nach dem Gespräch mit Nancy aufgelegt, war zu Crystals Atelier gefahren und hatte es auseinander genommen und dabei auch sie ein bisschen herumgeschubst, dann waren die beiden in seinen Corvette gestiegen und nach Myrtle Beach gebraust, um sich wieder zu versöhnen. Tom sagte, er würde sich eine andere Werkstatt suchen; Crystal sei ab heute aus seinem Leben verbannt (wobei sie eigentlich ja nie zu seinem Leben gehört habe), es tue ihm Leid, und er schäme sich. Wenn Nancy ihm aber verziehe und ihn nicht verließe, könne er ihr versprechen, dass so etwas nie wieder vorkommen würde.
    Tom hob seine großen blauen Cop-Augen vom Tisch und suchte ihren Blick. Sein Gesicht – Nancy hatte es immer schroff und attraktiv gefunden, die großen Wangenknochen und tief liegenden Augen, das dicke Kinn und die übergroßen weißen Zähne – sah in diesem Augenblick mehr nach einem Schädel aus, einem Totenkopf. Natürlich nicht wirklich; sie sah nicht einen echten Totenkopf wie auf einer Piratenflagge vor sich. Aber dieser Gedanke kam ihr, dazu die Worte: »Toms Gesicht ist ein Totenkopf.« Und obgleich sie sicher war, nicht obsessiv oder

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