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Eine Vorhaut klagt an

Eine Vorhaut klagt an

Titel: Eine Vorhaut klagt an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shalom Auslander
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Rabbi Goldfinger.
     
    – Rabbi Goldfinger hatte recht, sagte Ephraim am nächsten Sonntagnachmittag. – Du sollst andere nicht verpetzen. Das ist üble Nachrede. Mein Vater hat gesagt, wenn man üble Nachrede verbreitet, hängt Gott einen, wenn man bald stirbt, an der Zunge auf, bis sie abreißt und man stirbt.
    Wir waren auf meinem Zimmer und spielten Lego. Nebenan in der Garage ging die Arbeit am Toraschrein weiter.
    Ephraim und ich wetteiferten um den Titel »Bester Schüler der Klasse«, nicht eingeschlossen Yermiyahu Weider, der ein fotografisches Gedächtnis hatte und daher eigentlich nicht zählte. Bekam Ephraim nicht die beste Note in der Klasse, machte er sich Sorgen. Er wackelte mit den Fingern. Ephraims Vater war Rabbi. Er war ein hochgewachsener Mann mit einem großen schwarzen Hut und einem langen schwarzen Bart.
    – Eine Sechsundneunzig?, hörte ich ihn einmal nach der Jeschiwe zu Ephraim sagen. Enttäuscht zuckte er mit den Schultern und gab seinem Sohn die Klassenarbeit zurück. Ephraim wackelte mit den Fingern.
    – Mistding, sagte mein Vater. Er war in der Garage und sprach mit seinem Anschlagwinkel.
    – Es ist keine üble Nachrede, sagte ich zu Ephraim, – wenn es stimmt.
    – Aber es hat nicht gestimmt, sagte Ephraim. – Du hast gesagt, er verprügelt Leute.
    – Er packt einen an den Eiern, sagte ich. – Letzte Woche hat er deine gepackt.
    – Das ist aber nicht Verprügeln, sagte Ephraim.
    Seit dem Beginn des Toraschrein-Projekts war eine Woche vergangen, und je näher der Abgabetermin rückte, desto häufiger verlor mein Vater die Geduld, desto explosiver wurden seine Ausbrüche.
    – Wer war an dem verdammten Thermostat?, blaffte er. – Wer hat meine Schraubzwingen weggenommen? Es fehlen Brownies! Die Brownies waren für Schabbes !
    – Hat es wehgetan?, fragte ich Ephraim.
    – Was?
    – Avrumi, sagte ich.
    Ephraim zuckte die Schultern.
    – Schwanzlutscher, sagte mein Vater.
    – Warum flucht dein Vater denn so?, fragte Ephraim.
    – Weiß ich nicht, sagte ich.
    – Mein Vater sagt, dass die Weisen sagen, dass von Niwul pe jüdische Babys sterben.
    Niwul pe bedeutete schmutzige Wörter sagen. Übersetzt bedeutete Niwul pe »widerwärtiger Mund«.
    – Na und?, erwiderte ich. – Das weiß ich doch. Natürlich hab ich das gewusst.
    Ich hatte es nicht gewusst. Ob mein Vater es wusste? Ich hatte einen Vater mit einem widerwärtigen Mund und einen toten Bruder; es war schwierig, gegen diese Tatsachen anzureden.
    – Also sollte er es nicht tun.
    – Na und?
    – Also sollte er es nicht tun.
    – Na und?
    – Also sollte er es nicht …
    – Shalom!, rief mein Vater. – Komm her.
    Verfluchter Mist , dachte ich.
    Möglicherweise konnte ich bessere Noten als Ephraim bekommen, wenn ich mich richtig anstrengte, aber auf dem Gebiet der Familienabstammung schlug er mich um Längen. Ich war zwar Levite, aber Ephraim war ein Cohen, ein Priester, ein genealogischer Royal Flush, der einzige Stamm, der näher an Gott war als die Leviten. Außerdem war Ephraims Vater Rabbi, und auch beide Großväter waren Rabbis. Eine Hammer-Abstammung. Meine Abstammung war in der Garage nebenan und bedachte Elektrowerkzeuge mit Obszönitäten; ich konnte von Glück sagen, wenn meine Abstammung eine Kipa trug.
    – Gehn wir, sagte ich zu Ephraim. Ephraim schaute angstvoll drein.
    – Ist schon gut, sagte ich.
    Ephraim wackelte mit den Fingern.
    – Halt mal das Brett da hoch, sagte mein Vater.
    Das Gute war, das mein Vater seine Kipa trug. Das Schlechte, dass er kein Hemd anhatte. Am jeweiligen Entkleidungsgrad konnte ich ablesen, welche Arbeit mein Vater gerade machte: Bei leichten Projekten – Trockenwand flicken, Farbe auffrischen – schaffte er es bis zum Ende, Hemd und Kipa anzubehalten. Bei abschließenden Tischlerarbeiten – Hobeln, Beizen, Klammern, Kleben – zog er sich ungefähr nach der Hälfte das Hemd aus. Wurde die Arbeit schwer – Rohbau, Tischlern, Landschaftsgestaltung –, war auch die Kipa weg. Ab dreißig Grad trug er nur noch Shorts und Sandalen, und dann hofften wir alle, er würde mit seiner Arbeit im Garten hinten bleiben.
    Ephraim wackelte mit den Fingern und schlich geduckt in die hintere Ecke der Garage. Die Brusthaare meines Vaters waren voller Sägespäne, und sein Bauch hing schwer über dem schlaffen schwarzen Gürtel. Ich war schon Dutzende Male bei Ephraim gewesen, und kein einziges Mal hatte ich seinen Vater ohne Hemd gesehen. Auch ohne Anzugjacke hatte ich ihn nie gesehen.

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