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Eine Vorhaut klagt an

Eine Vorhaut klagt an

Titel: Eine Vorhaut klagt an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shalom Auslander
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Dammschnitt zu vermeiden, zu den Nachteilen der Lithotomie und den Vorteilen von pränatalem Yoga. Sie riet uns zur Anwendung von Beinwell bei Hämorrhoiden und dazu, weniger nichtbiologisches und mehr Biogemüse zu essen, Himbeertee schwarzem Tee vorzuziehen, generische pränatale Vitamine statt der teureren Markenvitamine zu nehmen, und empfahl das nahe gelegene Geburtszentrum Rhinebeck statt der örtlichen Klinik in Kingston.
    – Wie stehen Sie zur Beschneidung?, fragte ich.
    Mary trat zurück und hielt die Hände hoch.
    – Das ist nun wirklich Ihre Entscheidung, sagte sie.
    Als Mary weg war, unternahmen Orli und ich eine Wanderung. Vor fast zehn Jahren waren wir in unser Haus im Wald von Ulster County gezogen. Das Grundstück grenzt an nahezu vierhundert Hektar geschützten Wald an einer Wasserscheide, und es vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht die steilen, verlassenen Forstwege und ausgetrockneten Bachläufe mit den großen Steinen abwandern, die gleich vor unserer Haustür beginnen. Wir sprechen über unsere Arbeit, unsere Hoffnungen, unsere Ängste. Wir lösen Meinungsverschiedenheiten, wir entschuldigen uns, wenn wir unrecht hatten, wir rücken näher aneinander, wenn wir uns irgendwie voneinander entfernt hatten. Die Bäume müssen uns satthaben.
    – Da kommt er wieder mit seinem »Mutter«-Gerede , sagt der Ahorn.
    – Ich weiß noch , sagt die mürrische alte Eiche, – wie sie sich hier zugekifft und gevögelt haben.
    – Aber was ist mit dem Holocaust?, fragte ich Orli an jenem Nachmittag.
    Orli seufzte.
    – Was ist denn mit dem Holo caust?
    Auf unserem Weg einen alten Pfad entlang, der sich den Berg hinaufwand, erzählte ich ihr die Geschichte, die ich in meiner Jugend so oft gehört hatte, die Geschichte der alten Jüdin im Konzentrationslager, die einen Säugling kurz vor dessen Tod durch die Nazis noch beschnitt. An einem finsteren Abend hatte die SS angekündigt, am nächsten Morgen würden sämtliche Säuglinge im Lager getötet. Die alte Frau weinte und heulte, warf sich einem vorbeigehenden Nazioffizier vor die Füße und bat ihn um das Messer in seinem Gürtel. Der Nazi lächelte, er glaubte, die alte Jüdin wolle sich umbringen, und reichte ihr das Messer. Die Alte fiel auf die Knie und öffnete ein Bündel Lumpen, das sie dabeihatte; darin lag ein männlicher Säugling, und bevor der Nazi es verhindern konnte, beugte sie sich über das Kind und beschnitt es.
    – Du hast uns ein Kind geschenkt , rief sie laut Gott an, – und wir geben Dir einen Juden zurück.
    Es war Herbst, und die Jagdsaison war noch einige Wochen hin. In der Ferne feuerte jemand ein Gewehr ab, und der Knall hallte zwischen den Bergen und durch die Täler.
    – Und was war dann?, fragte Orli.
    – Weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat er sie umgebracht.
    Wir gingen ein Stück weiter. Die Sonne flutete durch die hohen dunklen Kiefern. Wieder ein Schuss.
    – Ich weiß nicht, was ich tun soll, sagte ich. – Einerseits ist es Wahnsinn; es ist eine Verstümmelung. Andererseits sollte er vielleicht doch eine Verbindung zu seiner Vergangenheit haben. Andererseits habe ich Angst, Gott bringt ihn um, wenn wir es nicht machen. Andererseits habe ich Schuldgefühle, ihn nicht beschnitten zu haben, wo in der Vergangenheit doch so viele Juden für die Gelegenheit dazu gestorben sind. Ich komme mir vor wie so ein blöder Vishnu hier mit diesen ganzen Armen.
    – Haben die nicht jeden Tag Babys getötet?, fragte Orli.
    – Was?
    – Es war doch der Holocaust, sagte sie. – Die haben jeden Tag Babys getötet. Die haben doch nicht gesagt: »Gut, heute töten wir Babys.«
    Wieder ein Schuss, diesmal näher.
    Ich meinte, wahrscheinlich hätten sie täglich Babys getötet, erklärte aber, dass es darum nicht gehe. Vielmehr gehe es darum, wie wichtig diese Tradition den Juden sei. Aber ist Tradition nicht auch nur ein anderes Wort für diese besondere religiöse, selbstgerechte, gedankenlose Trägheit, die so viele in Extreme treibt, denen sie sich niemals zugewandt hätten, wenn sie innegehalten hätten, um abzuwägen, um zu prüfen? Es sei schon tückisch genug, klagte ich, meinen eigenen Glauben festzulegen, nun aber würde ich aufgefordert, dies bei einem anderen zu tun, einem anderen, der noch nicht einmal Genitalien ausgebildet hatte, ganz zu schweigen von einer Philosophie oder Religion. Also, was wäre denn, wenn …
    – Woher wusste sie, wie man eine Beschneidung durchführt?, fragte Orli.
    – Wer?
    – Die alte Frau.
    –

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