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Eine Vorhaut klagt an

Eine Vorhaut klagt an

Titel: Eine Vorhaut klagt an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shalom Auslander
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Naivität erstaunte mich.
    – Ich glaube es nicht. Ich weiß es.
    Er bat mich, Ike zu ihm zu sagen. Ich sagte Ike, ich fühlte mich wie die biblischen Ägypter, die von Gott mit einer Finsternis gequält worden seien, die nie weggehe. Er sagte mir, sein Honorar sei $ 350.
    – Pro Woche?
    – Pro Sitzung. Aber wir müssen uns zweimal die Woche sehen.
    Dass ich mir geistige Gesundheit nicht leisten konnte, machte mich wahnsinnig, doch meine Wahl war einfach: verrückt bleiben, aus Manhattan wegziehen oder zur Arbeit zurückkehren. Zum Glück hatte mir der Chef der Agentur, die ich unlängst verlassen hatte, versichert, ich könne jederzeit zurückkommen. Er hieß Nick.
    – Wir sind hier eine Familie, hatte Nick gesagt.
    Nach meinem ersten Besuch bei Ike ging ich zu ihm.
    – Kann ich wiederkommen?, fragte ich.
    – Nein, sagte Nick.
     
    Vier Wochen später zogen Orli und ich aus Manhattan weg. Nach dem mörderischen Erlebnis Manhattan fanden wir, dass das Leben in der Vorstadt noch mal einen Versuch wert war. Wir waren erst eineinhalb Jahre verheiratet, und Monsey und London nicht mitgerechnet, lagen wir schon null zu drei gegen das Gelobte Land zurück.
    Teaneck, New Jersey, ist eine ruhige Gemeinde, gehobene Mittelschicht, große Tudor-Häuser, gepflegter Rasen und schattige Straßen, vorausgesetzt, man ist nicht schwarz. Ist man das, ist Teaneck eine heruntergekommene Gemeinde, Unterschicht, ein paar Ladenzeilen, ein Videoladen und ein Popeye’s Chicken. Fünfzig Jahre zuvor war Teaneck aus über zehntausend Städten als Amerikas Modellgemeinde ausgewählt worden, ein Ort, in dem die Menschen in baumgesäumter, sonnengesprenkelter Harmonie der Rassen lebten. Heute jedoch wagen sich die Juden nicht oft in das schwarze Viertel, das an der Teaneck Road beginnt, und Schwarze nicht oft ins jüdische, das an der Queen Anne Road anfängt. Das zwei Blocks lange Gebiet zwischen Teaneck Road und Queen Anne Road ist daher eine Art grüne Zone Vorstadt-Amerikas. Es gibt dort ein Walgreens, eine chinesische Wäscherei, eine große, rund um die Uhr besetzte Polizeiwache und einen Wohnkomplex namens Terrace Circle.
    Dieser Komplex, ein Dutzend identischer gedrungener Backsteingebäude in einem unrunden Kreis um einen kleinen grasbewachsenen Hof herum gebaut, wird fast ausschließlich von jungen jüdischen Frischvermählten bewohnt, die von dem Tag träumen, an dem sie über die Queen Anne Road hinweg in ihr Gelobtes Tudorland mit vier Schlafzimmern und zweieinhalb Bädern ziehen. Sie sehen sich kaum anders als die Siedler in Israels West Bank, die es wagen, in so enger Nachbarschaft mit ihren Feinden zu leben, um ihr Schicksal zu erfüllen; nur dass die Araber hier Afroamerikaner waren, Gaza Teaneck war, die Siedlungen Dreizimmerwohnungen mit Garten und Wäscherei auf dem Gelände und das Gelobte Land eine dreißigjährige Hypothek für zweieinhalb Bäder mit Profiküche und einer Doppelgarage auf der Queen-Anne-Road-Seite der Stadt.
    An dem Tag, als Orli und ich in das Apartment 3B, 1492 West Terrace Circle, zogen, machte meine Schwägerin mit uns eine kleine Tour durchs Viertel. Sie und mein Bruder hatten viele Jahre im Terrace Circle gelebt und waren erst kürzlich weggezogen. Ihr neues Haus auf der ordentlichen Seite der Queen Anne hatte viele Ebenen, viele Schlafzimmer, viele Bäder, hinten im Garten eine Schaukel und vorn zwei Autos. Tudor.
    – Da ist der koschere Fleischer, sagte sie. – Und da ist das Dunkin’ Donuts. Dunkin’ Donuts ist koscher, aber nicht der Thunfisch und die Eier auch nicht. Bei den Crullers bin ich mir nicht sicher. Das da ist Rabbi Hechts Synagoge. Sehr orthodox. Du kennst doch Rabbi Mandelbaum? Dort ist seine Synagoge. Unsere Synagoge ist da lang …
    Ich starrte trübsinnig aus dem Minivan, während wir an den Häusern und den Synagogen und den Jeschiwes und den Häusern und den Synagogen und den Jeschiwes vorbeifuhren. In der Nacht davor war ich in einem Foto von Lee Friedlander eingeschlafen; am Morgen war ich in einem von Roman Vishniac aufgewacht.
    – Habe ich euch den koscheren Pizzaladen gezeigt?, fragte meine Schwägerin.
    – He, sagte ich und deutete auf meine Armbanduhr. – Der Kabelmann.
    Es war Freitag, der 6. Mai 1994: das vierte Spiel im Halbfinale der Stanley Cup Conference zwischen den Rangers und den Washington Capitals sollte am Nachmittag des folgenden Sabbats stattfinden.
    Der Kabelmann ging wieder, und ich schloss die Tür hinter ihm. Angeblich kann man nie wieder

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