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Eine wie Alaska

Titel: Eine wie Alaska Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Green
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ihrem Stuhl vorzustellen, doch ich wusste nicht mehr, ob sie die Beine übereinanderschlug oder nicht. Ich sah sie immer noch vor mir, wie sie mich mit ihrem halben Mona-Lisa-Lächeln anlächelte, aber ich wusste nicht mehr, wie ihre Hände aussahen, wenn sie eine Zigarette hielt. Ich musste sie erst richtig kennenlernen, beschloss ich, denn nur so würde ich mich an sie erinnern können. Bevor der elende Prozess des Vergessens begann, bevor ich das Wie und Warum ihres Lebens und Sterbens vergaß, vor all dem musste ich die Antworten finden: Wie. Warum. Wann. Wo. Was.
    In Zimmer 43, nach schnell vorgebrachten und schnell angenommenen Entschuldigungen, sagte der Colonel: »Wir haben die taktische Entscheidung getroffen, den Anruf bei Jake auf später zu verschieben. Es gibt noch ein paar andere Spuren, die wir zuerst verfolgen müssen.«
Einundzwanzig Tage danach
    Als Dr. Hyde am nächsten Morgen ins Klassenzimmer schlurfte, setzte sich Takumi neben mich und kritzelte etwas auf seinen Block. Mittagessen bei McUngenießbar.
    Ich kritzelte auf meinen eigenen Block okay und blätterte dann zur nächsten Seite, als Dr. Hyde über Sufismus zu reden begann, eine mystische Lehre innerhalb des Islam. Ich hatte das Kapitel, das wir für heute lesen sollten, nur überflogen – für die Schule tat ich nicht mehr als unbedingt notwendig –, aber beim Überfliegen war ich auf ein paar starke letzte Worte gestoßen. Ein armer, zerlumpter Sufi kam an einem Juwelierladen vorbei, der einem reichen Kaufmann gehörte, und fragte den Kaufmann: »Weißt du, wie du sterben wirst?« Der Kaufmann antwortete: »Nein. Das weiß niemand.« Doch der Sufi entgegnete: »Ich schon.«
    »Wie?«, fragte der Kaufmann.
    Da legte sich der Sufi hin, verschränkte die Arme, sagte: »So« und starb, woraufhin der Kaufmann seinen Laden schloss und fortan ein Leben in Armut führte auf der Suche nach jenem spirituellen Reichtum, wie ihn der tote Sufi erlangt hatte.
    Doch Dr. Hyde erzählte eine andere Geschichte, eine, die ich übersprungen hatte. »Bekanntermaßen bezeichnete Karl Marx Religion als das ›Opium des Volkes‹. Der Buddhismus, vor allem der allgemein praktizierte, verspricht eine Verbesserung durch das Karma. Im Islam und im Christentum wird den Gläubigen das ewige Paradies versprochen. Das sind ohne Zweifel starke Opiate: die Hoffnung auf ein besseres Leben in der Zukunft. Doch es gibt eine Geschichte im Sufismus, die die Behauptung, der Mensch glaube nur, weil er Opium braucht, in Frage stellt. Rabe’a al-Adiwiyah, eine bedeutende Sufi-Heilige, rannte vor allen Menschen durch die Straßen ihrer Heimatstadt Basra, in der einen Hand eine Fackel, in der anderen ein Eimer Wasser. Als jemand fragte, was sie da tue, antwortete sie: ›Mit dem Eimer Wasser lösche ich die Flammen der Hölle, und mit der Fackel brenne ich das Tor zum Paradies nieder, damit die Menschen Gott nicht aus Angst vor der Hölle oder der Sehnsucht nach dem Paradies lieben, sondern weil Er Gott ist.‹«
    Eine Frau, die so stark war, dass sie den Himmel abfackelt und die Hölle flutet. Alaska hätte diese Rabe’a gefallen , notierte ich. Trotzdem, für mich spielte das Leben danach eine Rolle. Himmel und Hölle und Reinkarnation. So dringend ich wissen wollte, wie Alaska gestorben war, so dringend wollte ich wissen, wo sie jetzt war, wenn sie irgendwo war. Ich hätte mir gern vorgestellt, dass sie zu uns herabblickte, dass sie sich unser noch bewusst war, doch das schien mir eine Fantasievorstellung, und ich spürte nichts davon – genau wie der Colonel auf der Beerdigung gesagt hatte. Sie war nicht irgendwo, sie war nirgends. Ich konnte mir nichts vorstellen, außer dass sie tot war, dass ihr Körper in Vine Station verweste und der Rest von ihr ein Geist war, der nur noch in unserer Erinnerung existierte. Wie Rabe’a fand ich, dass die Menschen nicht wegen des Himmels oder der Hölle glauben sollten. Doch ich glaubte nicht, dass eine Fackel nötig war. Ein erfundener Ort lässt sich nicht niederbrennen.
     
    Nach der Schule stocherte Takumi bei McUngenießbar in seinen Pommes herum, von denen er nur die knusprigsten aß, und ihre Abwesenheit traf mich mit voller Breitseite. Mir war ganz schwindelig von dem Gedanken, dass sie nicht nur diese Welt, sondern auch die anderen verlassen hatte.
    »Wie geht’s dir so?«, fragte ich.
    »Hm«, sagte er, den Mund voll Pommes, »nicht gut. Und dir?«
    »Nicht gut.« Ich biss in den Cheeseburger. Ich hatte mit meinem Happy

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