Eine wie Alaska
abgeholt. Ich dachte gerade, ich konnte damit leben, nicht zu wissen, wo genau Alaska jetzt war und was genau in jener Nacht passiert war, als ich die Tür zu meinem Zimmer öffnete und einen zusammengefalteten Zettel auf dem Linoleumboden entdeckte. Es war ein einzelnes Blatt lindgrünes Briefpapier. Am Briefkopf stand in Kalligrafie:
Vom Schreibtisch des … Takumi Hikohito
Pummel/Colonel:
Es tut mir leid, dass ich nicht mehr mit Euch geredet habe. Ich bleibe nicht zur Abschlussfeier. Morgen früh fliege ich nach Japan. Ich war lange wütend auf Euch. Die Art, wie ihr mich ausgeschlossen habt, hat wehgetan, und so behielt ich das, was ich wusste, für mich. Aber selbst als ich nicht mehr wütend war, habe ich immer noch geschwiegen. Ich weiß nicht einmal warum. Pummel hatte seinen Kuss, denke ich. Und ich hatte mein Geheimnis.
Ihr habt fast alles aufgeklärt, doch ich hatte sie in jener Nacht noch gesehen. Ich war mit Lara und ein paar anderen lange auf gewesen, und als ich gerade am Einschlafen war, hörte ich sie vor meinem Fenster weinen. Es war vielleicht 3:15 Uhr, und so ging ich noch mal raus und sah, wie sie über den Fußballplatz lief. Ich versuchte, mit ihr zu reden, aber sie hatte es eilig. Sie erzählte mir, dass ihre Mutter genau vor acht Jahren gestorben war und dass sie ihr immer Blumen aufs Grab stellte, aber diesmal hatte sie es vergessen. Alaska hatte dort draußen nach Blumen gesucht, doch es war zu kalt – es war ja noch Winter. Daher wusste ich vom zehnten Januar. Ob es Selbstmord war oder nicht, weiß ich trotzdem nicht.
Sie war so traurig, und ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte. Ich glaube, sie hat auf mich gezählt als den Einzigen, der immer das Richtige sagte oder tat, um ihr zu helfen, aber ich habe versagt. Ich dachte doch nur, dass sie Blumen suchte. Ich wusste nicht, dass sie wegfahren würde. Sie war betrunken, völlig betrunken, und ich habe wirklich nicht daran gedacht, dass sie vorhatte, Auto zu fahren oder so was. Ich dachte, sie würde sich in den Schlaf weinen und am nächsten Tag zum Grab ihrer Mutter fahren, oder so. Sie lief davon, und später hörte ich, wie ein Motor gestartet wurde. Ich weiß nicht, was ich dachte.
Auch ich habe sie gehen lassen. Es tut mir leid. Ich weiß, Ihr habt sie geliebt. Man konnte gar nicht anders.
Takumi
Ich rannte aus dem Zimmer, als hätte ich nie eine Zigarette geraucht, rannte, wie damals mit Takumi in der Scheunennacht, über die Schlafsaalwiese zu seinem Zimmer, doch Takumi war fort. In seinem Bett lag die blanke Nylonmatratze, der Schreibtisch war leer, ein Umriss aus Staub dort, wo seine Anlage gestanden hatte. Er war fort, und ich hatte keine Zeit mehr, ihm zu sagen, was mir eben erst klar geworden war: dass ich ihm vergab, und dass sie uns vergab, und dass vergeben der einzige Weg war, wie wir im Labyrinth überleben konnten. Wir waren so viele, die wir mit den Dingen, die wir an jenem Tag getan hatten oder nicht getan hatten, leben mussten. Dinge, die schief gegangen waren, Dinge, die zu jenem Zeitpunkt okay zu sein schienen, weil wir nicht in die Zukunft sehen konnten. Könnten wir doch nur die endlose Kette der Folgen erkennen, die von unseren kleinsten Taten herrührt. Aber wir können nicht wissen, was passiert, und wenn wir es wissen, ist es zu spät.
Und als ich zurückging, um dem Colonel Takumis Brief zu zeigen, wusste ich, dass ich nie genug wissen würde. Ich würde sie nie gut genug kennen, um zu wissen, was sie in den letzten Minuten dachte, würde nie wissen, ob sie uns mit Absicht verlassen hatte. Doch dieses Unwissen hielt mich nicht davon ab, sie zu lieben. Und ich würde Alaska Young für immer lieben, meine räudige Nachbarin, mit meinem ganzen räudigen Herzen.
Als ich zurück in unser Zimmer kam, war der Colonel noch nicht da. Ich legte ihm den Brief auf sein Bett, dann setzte ich mich an den Computer und fing an, meinen Weg aus dem Labyrinth zu beschreiben:
Bevor ich hierher kam, dachte ich lange Zeit, der Weg aus dem Labyrinth besteht darin, so zu tun, als existierte es nicht. Ich errichtete mir in einer Ecke des endlosen Irrgartens eine kleine, eigenständige Welt und tat so, als hätte ich mich nicht verirrt, sondern wäre hier daheim. Doch das führte zu einem einsamen Leben, in dem mir nur die letzten Worte derer Gesellschaft leisteten, die bereits tot waren. Und so kam ich hierher, auf der Suche nach dem großen Vielleicht – nach echten Freunden
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