Eine wie Alaska
und einem Leben, das größer war als dieses kleine, das ich geführt hatte. Doch dann habe ich einen Fehler gemacht, der Colonel hat einen Fehler gemacht, Takumi hat einen Fehler gemacht, und sie ist uns durch die Finger geglitten. Es gibt nichts zu beschönigen: Sie hätte bessere Freunde verdient.
Nachdem sie einen Fehler gemacht hatte, vor all den Jahren, als kleines Mädchen, gelähmt vor Angst, war sie in ihrem eigenen Mysterium versunken. Und dasselbe könnte auch ich jetzt tun, nur dass sie mir gezeigt hat, wo das hinführte. Und deshalb glaube ich heute immer noch an das große Vielleicht. Ich kann wieder daran glauben, obwohl ich sie verloren habe.
Denn ich werde sie vergessen, eines Tages. Alles, was geworden ist, strebt auseinander. Ich werde sie vergessen, doch sie wird mir verzeihen, genau so, wie ich ihr verzeihe, dass sie mich und den Colonel und alle anderen vergessen hat, dass sie nur an sich und ihre Mutter dachte, in jenen letzten Augenblicken, die sie als Mensch verbrachte. Ich weiß, sie vergibt mir, dass ich dumm und feige war und dumm und feige gehandelt habe. Ich weiß, sie vergibt mir, genau wie ihre Mutter ihr vergibt. Und daher weiß ich es:
Zuerst dachte ich, sie wäre einfach nur tot, sonst nichts. Nichts als Dunkelheit. Nichts als eine Leiche, die von den Würmern gefressen wird. So habe ich sie mir lange vorgestellt, als das Futter von etwas anderem. Das, was sie war – ihre grünen Augen, das halbe Lächeln, die weichen Kurven ihrer Beine –, würde bald nicht mehr sein, nur noch die Knochen, die ich nie gesehen hatte. Ich stellte mir den Prozess vor, wie sie zum Skelett wurde, ihre Knochen versteinerten und zu Kohle wurden, die in Millionen von Jahren von den Menschen der Zukunft abgebaut würden; jemand würde sein Haus mit ihr heizen, und dann wäre sie Rauch, der aus dem Schornstein quillt und in die Atmosphäre zieht. Manchmal denke ich immer noch so, denke, vielleicht haben wir uns das »Leben nach dem Tod« nur ausgedacht, um unseren Verlustschmerz zu lindern, um uns die Zeit im Labyrinth erträglich zu machen. Vielleicht war sie nichts als Materie, und Materie wird recycelt.
Aber ich glaube nicht, dass sie nur Materie war. Auch der Rest von uns muss recycelt werden. Ich glaube heute, dass wir mehr als die Summe unserer Teile sind. Würde man Alaskas genetischen Code und die Erfahrungen ihres Lebens zusammenzählen und die Beziehungen, die sie zu Menschen hatte, und die Maße und Form ihres Körpers addieren – man hätte sie noch lange nicht. Es gehört noch etwas ganz anderes dazu. Das ist der Teil von ihr, der größer ist als die Summe ihrer messbaren Teile. Und auch dieser Teil muss irgendwohin, denn er ist unzerstörbar.
Obwohl ich nie gut in Naturwissenschaften war, habe ich mir eines gemerkt, und zwar dass Energie weder erzeugt noch vernichtet werden kann. Das ist die Hoffnung, die ich Alaska so gerne gegeben hätte, falls sie sich wirklich das Leben genommen hat. Ihre Mutter zu vergessen, sie im Stich zu lassen, genau wie ihre Freunde und sich selbst – das sind schlimme Dinge, doch nichts ist so schlimm, dass sie daran verzweifeln musste. Wir können die schlimmsten Dinge überstehen, denn wir sind unzerstörbar, solange wir daran glauben. Erwachsene sagen mit diesem spöttischen Lächeln: »Teenager halten sich für unbesiegbar.« Sie wissen gar nicht, wie recht sie haben. Wir halten uns für unbesiegbar, weil wir es sind. Wir können nicht unwiederbringlich gebrochen werden, und deshalb müssen wir nie verzweifeln. Wir können nicht erzeugt und nicht vernichtet werden. Wie alle Energie wandeln wir uns nur in Gestalt und Größe und Erscheinungsform. Leider vergessen das die Menschen, wenn sie älter werden. Sie beginnen, sich vor der Niederlage und dem Scheitern zu fürchten. Doch der Teil von uns, der größer ist als die Summe unsere Einzelteile, hat keinen Anfang und kein Ende, und darum kann er auch nicht scheitern.
Deshalb weiß ich, dass sie mir vergibt, genauso wie ich ihr vergebe. Thomas Edisons letzte Worte waren: »Es ist wunderschön hier drüben.« Ich weiß nicht, wo sie ist, aber ich glaube, sie ist irgendwo, und ich hoffe, dass es wunderschön dort ist.
Ende
Ein paar letzte Worte über letzte Worte
Genau wie Miles Halter habe ich eine Schwäche für letzte Worte. Bei mir fing es an, als ich zwölf war und in einem Geschichtsbuch die letzten Worte des US-Präsidenten John Adams las: »Jefferson
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