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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
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könnte jemand vorbeikommen.«
    »Und wenn jemand vorbeikommt! Wir haben nichts gestohlen. Dürfen wir das etwa nicht?«
    »Ich weiß nicht. Mutter würde es gewiss nicht erlauben«, lächelte Erna.
    »Na, Mutter! In ihren Augen sind Sie doch sicher noch ein sechsjähriges Mädelchen.«
    »Ich bin erst sechzehn Jahre alt«, sagte Erna, »aber oft fühle ich mich wie eine vollgültige Frau. Ich spüre, dass ich lieben kann, lieben darf als Frau, und ich habe gar nicht die Absicht, irgendwen um Erlaubnis zu fragen, außer mich selbst!« Sie sagte es völlig selbstsicher und unerschütterlich, und als wolle sie ihren Worten damit Nachdruck verleihen, umarmte sie Rost kurzerhand und küsste ihn viele Male auf Mund, Augen und Haar, voll Leidenschaft und Überschwang, biss ihm die Lippen blutig und ließ nicht locker, bis er sich sanft aus ihren Armen befreite.
    »Sie wollen mich doch nicht bei lebendigem Leib auffressen!«
    Sie sahen einander in die Augen und brachen plötzlich in schallendes, befreiendes Gelächter aus, das erst nach einigen Minuten versiegte.
    Nun tauchten zwei junge Männer auf, die Rost auf den ersten Blick von weitem erkannte. »Verflixt noch mal«, grollte er, »in dieser Stadt gibt es kein ruhiges Plätzchen.« Und zu Erna: »Jetzt kommen wir nicht mehr weg.«
    Fritz Anker kam mit Schor an. Rost stellte Schor Erna vor.
    »Stören wir auch nicht?«, fragte Schor.
    »Da ich vergessen habe, den Pförtner anzuweisen, das Tor für Fremde zu verschließen …«, scherzte Rost notgedrungen.
    Anker blieb stehen, warf Erna verlegene Blicke zu.
    »Wer Einsamkeit sucht«, tönte Schor, »sollte sich lieber einen anderen Ort aussuchen. Ich brauche das nicht, im Gegenteil, ich freue mich, euch getroffen zu haben.« Und mit einem freimütigen Lächeln in Ernas Richtung: »Außerdem haben Sie sich eine solch liebreizende junge Dame ausgesucht.«
    Schor setzte sich an Ernas andere Seite.
    »Und Sie setzen sich nicht?«, wandte sie sich an Anker. »Sie sind auch eingeladen.«
    Anker hatte keine Lust zu sitzen. Er stützte sich auf seinen Stock, verharrte in seiner leicht gebeugten Haltung, starrte durch die dicken Brillengläser, bedauerte stehengeblieben zu sein. Seine zum Zerreißen angespannten Nerven verrieten ihm, dass er einen Fehler begangen hatte. Man hätte nicht stören sollen. Außerdem konnte er seine Augen nicht von Erna losreißen. Welch glücklicher Glanz lag in ihren Augen! Ohne den geringsten Anflug von Eifersucht vermerkte er das alles, aber es versetzte seinem Herzen einen Stich, und seine extreme Einsamkeit wurde ihm noch stärker bewusst. »Ich würde einen Spaziergang vorschlagen«, entfuhr es ihm ungeschickt, »und ein Abendessen an der frischen Luft.«
    Aber Erna musste um Punkt sieben Uhr zu Hause sein.
    »Schade, dass Sie uns so schnell verlassen müssen«, sagte Schor, »vielleicht haben wir das nächste Mal mehr Glück.« Sie verabschiedeten sich und gingen.
    »Dieser Anker«, sagte Erna, »ich weiß nicht. Er tut mir irgendwie leid. Ein junger Mann, der wie ein alter wirkt. Dieser Mensch ist nicht lebenstüchtig.«Als sie den Volksgarten verließen, wimmelte die Ringstraße schon von Passanten, die nach Arbeitsschluss heimwärts eilten. Rost entgingen nicht die lüsternen Blicke, die vorbeikommende Männer auf Erna richteten, und dieser Umstand erhöhte noch seine Freude. Er war so leichtfüßig, so reich, so ein Liebling des Schicksals. Er fühlte sich ungeheuer stark, körperlich wie geistig, weit mehr als sonst.
    Die Sonne beschien jetzt die oberen Stockwerke mit rötlichem Licht, und die Straßenschluchten lagen in gedämpftem Schatten. Die Mauern und die Pflastersteine, die sich tagsüber erhitzt hatten, strahlten nun die gespeicherte Wärme ab, nur auf dem offenen Karlsplatz war die Luft frischer. Aber Rost und Erna hatten einen ungünstigen Zeitpunkt erwischt: Als sie sich an der Straßenecke, kurz vor ihrem Haus, verabschieden wollten, tauchte, wie aus dem Erdboden gewachsen, Gertrud auf.
    »Wo kommt ihr denn her?«, fragte sie mit gekünstelter Leichtigkeit. Rost überspielte seine momentane Verlegenheit und sagte lässig: »Ich habe Erna getroffen und sie begleitet.«
    »Meinen Sie, sie hätte den Weg nicht allein gefunden? Sie ist ja kein kleines Mädchen mehr.«
    »Das denke ich auch«, sagte Rost, einen humorvollen Unterton unterdrückend.
    »Warst du bei Friedel?«, wandte sie sich an Erna.
    »War ich, natürlich, warum fragst du? Du weißt doch, dass ich zu ihr gegangen

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