Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
Wagen, der geräuschlos auf seinen Reifen dahinrollte, jagten ihm einige Zeit nach, verstummten und erklangen erneut aus ihren Baumverstecken. Eine Droschke kam ihnen mit schallendem Gelächter entgegen und besprühte sie im Vorbeifahren mit Ausgelassenheit wie mit echten, bunten Blüten. Auf einem der Aschenplätze schossen Jugendliche einen großen Fußball hin und her. Kindermädchen führten ihre Pflegebefohlenen aus, Liebespaare schlüpften Arm in Arm ins Dickicht der Wegränder, es gab viel Kutschverkehr, eine Eisenbahnbrücke spannte sich von Wipfel zu Wipfel über die Allee, Droschken fuhren darunter hindurch, und die Luft war feucht, kühl und würzig. Eine Eisenbahn überquerte schnaufend die Brücke und verschwand zwischen den dichten Baumkronen. Ihr schwerer Atem entfernte sich mehr und mehr, wurde schwach und schwächer, bis er etwas Abstraktes, Stoffloses wurde.
»Ich wäre gern ein Dichter, um diesen Abend in Worten festzuhalten.«
»Nur keine Banalitäten.«
»Ich bin jetzt ein bisschen sentimental, verzeihen Sie mir.« Kurz darauf: »Lieben Sie Eisenbahnen? Ich – wahnsinnig. Sie bringen einen immer an einen anderen Ort. Immer woanders hin. Verweilen ist tödlich.«
Ein letzter orangeroter Schimmer lag noch über den Wipfeln und erlosch kurz darauf. Die Sonne war also definitiv untergegangen. Ein leichter Luftzug stahl sich aus dem nahenden Abend und streichelte kühl die Gesichter. Vita tippte dem Kutscher auf den Rücken und befahl ihm umzukehren. Sie schlug Rosts Einladung zu einem gemeinsamen Abendessen aus. Sie sei schon verabredet. Vielleicht an einem anderen Abend. An der Oper verabschiedeten sie sich. Der Abend lag bereits auf den Dächern. Eine Weile schlenderte Rost die Straße entlang. Dann stieg er in eine Tram zum Kanal.
Im Achdut wurde zu Abend gegessen. Es roch nach Braten, Zwiebeln, Sauerkraut. Mischa der Anarchist vertilgte eine Portion Kischke . Tat es andächtig, mit viel Eifer und Geschick. Der Heldentenor neben ihm knabberte ein Hühnerbein ab und ließ hin und wieder ein heiseres, zufriedenes Grunzen vernehmen. Reb Chaim Stock machte gemächlich die Runde, die Hände auf dem Rücken und den Kneifer schräg auf der Nase.
»Setz dich zu uns, Mister«, lud ihn der Tenor ein. Mischa hob die Augen zu ihm auf und hielt einen Moment im Kauen inne. »Nimm dich vor Jan in Acht, Junge. Er sinnt darauf, dich ein bisschen mit der Messerspitze zu kitzeln.«
»Wo steckt er?«, fragte Rost.
Mischa warf das Haar mit einer Kopfbewegung in den Nacken. »Kuriert sein Auge.« Dann senkte er den Blick wieder auf seinen Teller.
»Und Jascha?«
»War heute noch nicht da«, antwortete der Tenor, »vielleicht kommt er später.«
»Er sollte lieber auf sein zweites Auge aufpassen, dieser Jan«, fauchte Rost. »Trinkt ihr ein Glas mit? Kann ja nichts schaden.«
Rost bestellte Hühnerbraten.
Die Brust auf den Tresen gelegt, tuschelte Max Karp mit Malwine. Den einen Fuß hatte er auf den großen Zeh gestützt, in der Sohle seines Lackschuhs war ein großes Loch. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick herüber. Dann trat er näher und bat Rost, ihm einen Augenblick zu schenken: Er habe ihm etwas sehr Wichtiges unter vier Augen zu sagen. Rost stand auf und ging mit ihm in eine Ecke.
»Sie scheinen jetzt reich zu sein«, sagte er mit einschmeichelndem Lächeln.
»Ja, ich bin jetzt wohl reich.«
»Ich habe eine Bitte an Sie, für Sie eine Kleinigkeit.«
»Und die wäre?«
»Möchten Sie mir zwanzig Kronen leihen?«
»Nein.«
»Einem Mann wie mir wollen Sie nichts geben?«
»Einem Mann wie Ihnen will ich nichts geben.«
»Um so einen Kleckerbetrag tut es Ihnen leid?«
»Tut es nicht.«
»Wir wollen ein Literaturmagazin für junge Leute herausgeben.«
»Viel Glück!«
»Sie könnten sich beteiligen.«
»Wie beteiligen?«
»Dinge veröffentlichen.«
»Ich hab nichts zu veröffentlichen.«
»Schreiben Sie nicht?«
»Ich schreibe nicht.«
»Wie das? Aber besser so. Mir ist klar, dass Sie talentlos sind.«
»Ich bin talentlos.«
»Aber ich könnte Ihnen helfen, Sie anleiten, könnte an Ihrer Stelle schreiben, und Sie würden nur Ihren Namen druntersetzen.«
»Nicht nötig.«
»Und die zwanzig Kronen?«
»Kriegen Sie nicht.«
»Ich könnte sie mir hier auf der Stelle holen«, er machte eine Kopfbewegung zur Theke hin, »gleich auf der Stelle. Aber das wäre unangenehm.«
»Schade, dass es unangenehm ist.«
»Warum schade?«
»Weil Sie ohne die zwanzig Kronen verbleiben
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